SGB-II-Leistungen für bulgarische Sexarbeiterin nach pandemiebedingtem Tätigkeitsverbot

Rechtsanwältin Elisabet Poveda Guillén aus Frankfurt hat einen Beschluss des LSG Hessen (6. Senat, Beschluss vom 5. August 2020; L 6 AS 362/20 B ER) erstritten, in dem einer bulgarischen selbstständigen Sexarbeiterin SGB-II-Leistungen zugesprochen werden. Die Frau musste ihre Selbstständigkeit als Sexarbeiterin aufgrund des Tätigkeitsverbots im Zuge der Corona-Pandemie aufgeben bzw. unterbrechen. Da zu dieser Konstellation bislang kaum positive Rechtsprechung bekannt ist, soll der Beschluss hier ausführlicher dargestellt werden. Unten gibt es dazu auch noch eine ausführliche Kommentierung der Rechtsanwältin. Eine aktualisierte Rechtsprechungsübersicht mit positiven Gerichtsentscheidungen zu Leistungsansprüchen von Unionsbürger*innen gibt es hier.

Das LSG Hessen hat im Eilverfahren die Erbringung von SGB-Leistungen für eine selbstständige Sexarbeiterin auf dem Straßenstrich (seit 2018 angemeldet gem. §3 Prostituiertenschutzgesetz) angeordnet, die ihre Arbeit aufgrund des Tätigkeitsverbots im Zuge der Corona-Pandemie aufgeben bzw. unterbrechen musste. Sie kann sich auf die Fortwirkung ihres Status als Selbstständige aus §2 Abs.3 Nr.2 FreizügG berufen, da sie die Selbstständigkeit aufgrund von Umständen unfreiwillig aufgeben musste, die sie nicht beeinflussen konnte. (Nur ergänzend sei angemerkt, dass demnach im Falle einer Wiederaufnahme der Tätigkeit auch Anspruch auf aufstockende Leistungen bestehen würde, falls das Einkommen nicht reicht.)

Das Gericht stellt in dem Beschluss fest:
1. Die Tätigkeit als selbstständige Sexarbeiterin erfüllt den Tatbestand einer „niedergelassenen selbstständigen Erwerbstätigkeit“ gem. §2 Abs.2 Nr.2 FreizügG. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Tätigkeit gem. §3 Prostituiertenschutzgesetz angemeldet worden ist, aber wohl auch dann, wenn die Tätigkeit als „rechts- und sittenwidrig“ angesehen wird (vgl.: EuGH, Urteil vom 20. November 2001; C-268/99 sowie BVerwG, Beschluss vom 24.10.2002 - 1 C 31.02). Eine Wohnsitzanmeldung ist hierfür nicht Voraussetzung, wenn die „nachhaltige“ Ausübung der Tätigkeit im Inland anderweitig glaubhaft gemacht werden kann.
2. Eine über §3 Prostituiertenschutzgesetz hinausgehende Gewerbeanmeldung nach der Gewerbeordnung ist nicht vorgesehen und daher auch nicht erforderlich. Ebenso wenig kommt es für das Vorliegen des Freizügigkeitsrechts als Selbstständige auf die Erfüllung der steuerrechtlichen Pflichten an, denn ein steuerrechtlicher Verstoß würde die Tätigkeit selbst nicht „illegal“ werden lassen.
3. Die Berufung auf ein Freizügigkeitsrecht als selbstständige Sexarbeiterin ist auch nicht „rechtsmissbräuchlich“ im Sinne des Unionsrechts. Denn dies könnte – wenn überhaupt – nur der Fall sein, wenn eine Tätigkeit nur „zum Schein oder von vornherein mit dem (primären) Ziel verfolgt“ worden wäre, sich entsprechende Sozialleistungsansprüche zu verschaffen. Dies ist hier nicht der Fall, denn die Frau hat die Tätigkeit als Sexarbeiterin aufgenommen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern.

Die ausführliche Darstellung und Kommentierung von Rechtsanwältin Elisabet Poveda Guillén:

Sehr geehrte Damen und Herren,
mit dieser E-Mail möchte ich Sie auf eine aktuelle Gerichtsentscheidung des Hessischen Landessozialgerichts vom 5. August 2020 aufmerksam machen, welche auch für Ihre Klientinnen eine positive Auswirkung haben könnte und angesichts der schwierigen Rechtslage von großer Bedeutung ist.
Das Hess. LSG hatte über die Ansprüche auf Leistungen nach dem SGB II (Hartz IV) einer bulgarischen Sexarbeiterin im Eilverfahren zu entscheiden, die aufgrund der Corona-Maßnahmen ihrer Selbständigkeit nicht weiter nachgehen durfte. Es handelte sich um eine Frau, die zwar sehr lange im Bundesgebiet gelebt hatte, allerdings ohne durchgehende Anmeldung oder andere Nachweise ihres Aufenthalts. Seit Juni 2018 besaß sie einen Ausweis nach dem Prostitutionsgesetz und arbeitete damit auf dem legalen Straßenstrich (…) in Frankfurt am Main.  Die Ausübung ihrer Selbständigkeit konnte durch die eidesstattliche Erklärung einer Kollegin, sowie durch Bescheinigungen einer lokalen Beratungsstelle (…) und des zuständigen Polizeihauptkommissars glaubhaft gemacht werden. Buchhaltungs- oder steuerliche Unterlagen waren nicht vorhanden, denn die Frau hatte bisher keine Steuererklärung für ihre Selbständigkeit abgegeben, was ihr zunächst zum Verhängnis wurde.
So wurde der Antrag der Betroffenen zunächst vom Jobcenter mit der Begründung abgelehnt, sie verfüge lediglich über ein Aufenthaltsrecht als Arbeitssuchende und sei mithin nach §7 Abs.1 Satz 2 SGB II von Leistungen ausgeschlossen. Eine bessere Rechtstellung aufgrund der vorangegangenen Selbständigkeit als Prostituierte und die unfreiwillige Aufgabe ihres Gewerbes wurden ihr nicht zugestanden. Dem Jobcenter zufolge hatte die Antragstellerin ihre mit der Selbständigkeit verbunden steuerlichen Verpflichtungen über Jahren hinweg nicht nachgekommen, weshalb ihre Selbständigkeit – analog zu dem Fall der Schwarzarbeit – als illegal zu betrachten sei und kein Aufenthaltsrecht begründen könne, welches zum Leistungsbezug berechtige.
Aufgrund dieser Leistungsablehnung wurde ein Eilverfahren vor dem Sozialgericht Darmstadt durchgeführt, damit dieses das Jobcenter zur vorläufigen Leistungsgewährung verpflichte. In der ersten Instanz wurde dem Begehren der Antragstellerin jedoch nicht entsprochen. Das Gericht schloss sich vielmehr der Auffassung des Jobcenters an, wonach eine nicht ordnungsgemäß versteuerte Selbständigkeit kein Aufenthaltsrecht als niedergelassene Gewerbetreibende nach ihrer unfreiwilligen Aufgabe gem. §2 Abs.3 FreizügG/EU vermitteln konnte. Die praktische Folge daraus war, dass die Antragstellerin lediglich ein Aufenthaltsrecht zum Zweck der Arbeitssuche gelten machen konnte, weshalb sie von Leistungen nach dem SGB II gemäß §7 Abs.1 Satz 2 SGB II ausgeschlossen wurde. Diese Rechtsauffassung des Sozialgerichts Darmstadt wurde übrigens vom Sozialgericht Gießen in einem anderen ähnlich gelagerten Fall auch vertreten, weshalb auch dieses einen Eilantrag einer weiteren Sexarbeiterin ablehnte.
Erst im Rahmen der Beschwerde sind die Ansprüche auf Leistungen der Antragstellerin durch das Hess. Landessozialgericht anerkannt worden. Mit Beschluss vom 5. August 2020, Az. L 6 AS 362/20 B ER, hat das Gericht das zuständigen Jobcenter dazu verpflichtet, Leistungen nach dem SGB II für die Betroffene vorläufig für (zunächst) mehrere Monate zu erbringen. Dem Hess. LSG zufolge kann sich die Antragstellerin auf ein privilegiertes Aufenthaltsrecht aufgrund der Aufgabe ihrer Selbständigkeit berufen und ist berechtigt, Leistungen nach dem SGB II zu erhalten. Die Tatsache, dass die Antragstellerin bisher keine Steuerklärung abgegeben habe, macht ihre Tätigkeit keineswegs illegal. Maßgeblich für das Hess. LSG ist es gewesen, dass die Antragstellerin über den hierfür vorgeschriebenen Ausweis nach dem Prostitutionsgesetz verfügte und ihre Tätigkeit nicht im Verborgenen ausübte, wie die Bescheinigungen des Kriminalkommissars und der Frankfurter Beratungsstelle zeigten. Als niedergelassene Sexarbeiterin hatte die Antragstellerin demnach ein Aufenthaltsrecht nach §2 Abs.2 Nr.2 FreizügG/EU erworben, welches durch die unfreiwillige Aufgabe der Tätigkeit während der Corona-Pandemie in ein Aufenthaltsrecht nach §2 Abs.3 FreizügG/EU mündete und ihr einen Rechtsanspruch auf Leistungen nach dem SGB II vermittelt.
Angesichts der äußerst prekären Lage von Sexarbeiterinnen aus dem osteuropäischen Bereich, erscheint dieser neue Präzedenzfall äußerst relevant. Es soll Beratungsstellen Mut machen, ihre Klientinnen in ihrem Leistungsbegehren gegenüber dem Jobcenter zu bestärken. Wichtig ist hierbei, dass die Anforderungen aus dem Prostitutionsgesetz (Besitz des Ausweises, Inanspruchnahme der gesundheitlichen Beratungen u.ä.) in der Vergangenheit erfüllt worden seien, und die tatsächliche Ausübung der Erwerbstätigkeit durch Bestätigungen von Kolleginnen, Bordellbetreiber, Beratungsstellen, polizeiliche Kontrolle oder andere geeignete Wege, nachgewiesen werden kann.
So hat die hier in Rede stehende Antragstellerin nunmehr die Leistungen vom Jobcenter ausgezahlt bekommen und wird nunmehr, nach vielen Jahren, zum ersten Mal über eine Krankenversicherung verfügen.
Zudem hat diese Gerichtsentscheidung bereits für eine weitere Sexarbeiterin Früchte getragen. So hat das Jobcenter Gießen im dem vorgenannten Parallelverfahren zwar in der ersten Instanz haushoch gewonnen, in der zweiten Instanz aber angesichts dieser neuen Gerichtsentscheidung des Hess. LSG seine Rechtsauffassung um 180 Grad geändert und nunmehr von sich aus den begehrten Leistungen für die Betroffene freiwillig anerkannt  (vielleicht, um einen weiteren gerichtlichen Präzedenzfall zu vermeiden?). Dadurch konnte das Existenzminimum auch dieser Person gesichert werden.
Wenn diese Gerichtsentscheidung eine Hilfestellung für Ihre wertvolle Arbeit sein kann, so wollte ich auf diesem Weg sicherstellen, dass Sie davon erfahren.
Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei Ihren weiteren Vorhaben.

Kontakt

GGUA Flüchtlingshilfe
Hafenstraße 3–5 (2. Etage)
48153 Münster

Email: info(at)ggua.de
Telefon: 0251 / 14486-0
Fax:       0251 / 14486-10

Unsere Öffnungszeiten:
Montag bis Freitag
9–12:30 Uhr
Montag und Donnerstag
14–18 Uhr