LSG Baden-Württemberg zum SGB-II-Anspruch von Unionsbürger*innen

Bestätigung über die „Unfreiwilligkeit“ der Arbeitslosigkeit durch die Arbeitsagentur ist nicht notwendige Voraussetzung

Bei der Frage eines Anspruchs auf SGB-II-Leistungen für Unionsbürger*innen, die die Arbeit verloren haben, stellt sich immer wieder das Problem der „Unfreiwilligkeit“ der Arbeitslosigkeit. So verlangen die Jobcenter regelmäßig eine Bescheinigung über die Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit von der Arbeitsagentur. Dies widerspricht jedoch der Formulierung in §2 Abs.3 FreizügG: Danach bleiben der Arbeitnehmer*innenstatus und damit der Leistungsanspruch nämlich bestehen bei „unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit.“ Die Bestätigung durch die Arbeitsagentur bezieht sich schon grammatikalisch nur auf die Arbeitslosigkeit selbst und nicht auf die „Unfreiwilligkeit“. Hierzu hat das Landessozialgericht Baden-Württemberg nun eine hilfreiche Entscheidung getroffen (LSG Baden-Württemberg (7. Senat); Beschluss vom 7. August 2020; L 7 AS 1376/20 ER-B), die der brutalen Realität im prekären Arbeitsmarktsektor, wo erzwungene Aufhebungsverträge, unrechtmäßige Kündigungen usw, an der Tagesordnung sind, zumindest einigermaßen gerecht wird.

Es stellt in einem Eilverfahren fest, dass für die Fortwirkung des Arbeitnehmer*innen-Status (und damit den SGB-II-Anspruch) die Bestätigung über die „Unfreiwilligkeit“ durch die Arbeitsagentur keine zwingende Voraussetzung ist. Vielmehr sei davon auszugehen, dass das Jobcenter die Frage der „Unfreiwilligkeit“ in eigener Verantwortung zu prüfen habe. Lediglich eine Bestätigung der Arbeitsagentur über die Arbeitslosigkeit selbst ist für einen Leistungsanspruch erforderlich – also eine Arbeitslosmeldung. §138 Abs.1 SGB III definiert, wann das der Fall ist (Beschäftigungslosigkeit, Eigenbemühungen, Verfügbarkeit). Die Prüfung des Verschuldens habe dann das Jobcenter materiell durchzuführen: Hierfür sei entscheidend, ob die/der Arbeitnehmer*in die Gründe, die zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses geführt haben, selbst zu vertreten hat oder nicht.

In dem vorliegenden Verfahren hat das LSG die Unfreiwilligkeit trotz gegenteiliger Bescheinigung der Arbeitsagentur angenommen, obwohl der Arbeitgeber die Auskunft erteilt hatte, dass der Arbeitnehmer wegen „gravierender Pflichtverletzungen“ außerordentlich gekündigt worden sei. Der Arbeitnehmer hat jedoch vorgetragen, dass dies nicht den Tatsachen entspreche, sondern der Arbeitgeber ihn entgegen dem Arbeitsvertrag ständig zu mehrtägigen Montagetätigkeiten verpflichtet habe, diese aber nicht entsprechend der Arbeitszeit entlohnt habe. Dies hält das Gericht im Eilverfahren für nicht abwegig und hat daher das Jobcenter zur Erbringung von SGB-II-Leistungen verpflichtet.

Im Ergebnis heißt das für die Praxis: Wenn das Jobcenter SGB-II-Leistungen ablehnt, weil die Arbeitsagentur keine Bestätigung über die Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit ausgestellt hat, sollten gegen die Jobcenter-Ablehnung Rechtsmittel eingelegt werden. Das Jobcenter ist verpflichtet, in eigener Verantwortung die Gründe für die Arbeitslosigkeit zu prüfen – so jedenfalls das LSG Baden-Württemberg.

Hier ein Auszug aus der Entscheidung:
Dem Bestehen eines fortwirkenden Aufenthaltsrechts nach §2 Abs.3 Satz2 FreizügG/EU steht jedenfalls nicht bereits entgegen, dass die Bundesagentur für Arbeit mit Schreiben vom 25. März 2020 mitgeteilt hat, dass eine unfreiwillige Arbeitslosigkeit im Sinne der Vorschrift nicht bestätigt werden könne. Zwar wird in der Literatur vertreten, dass die Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit von der Agentur für Arbeit zu bestätigen sei (so Brinkmann in Huber, AufenthG, 2. Aufl. 2016, FreizügG/EU §2 Rdnr.48; Tewocht a.a.O., Rdnr.51). Auch nach den Ausführungen des Bundessozialgerichts (BSG) im Urteil vom 13. Juli 2017 – B 4 AS 17/16 R – SozR 4-4200 §7 Nr.54, juris Rdnr.34) soll die Bestätigung über die Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit Voraussetzung für das Fortbestehen des Freizügigkeitsrechts im Sinne einer konstitutiven Bedingung sein. Dieser Auslegung der Vorschrift steht jedoch schon deren ausdrücklicher Wortlaut entgegen, wonach eine unfreiwillige, durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigte Arbeitslosigkeit erforderlich ist, sich die Bestätigung demnach ausschließlich auf die Arbeitslosigkeit und nicht auf deren Unfreiwilligkeit zu beziehen hat. Auch die AVV FreizügG/EU, auf die in der Literatur (auf die auch das BSG verweist) regelmäßig Bezug genommen wird, spricht dafür, dass lediglich die Arbeitslosigkeit und nicht die Unfreiwilligkeit im Sinne der oben dargestellten Definition von der Agentur für Arbeit zu bestätigen ist. Nach Artikel1 Ziff.2.3.1.2 AVV FreizügG/EU soll zwar die Bestätigung der Agentur für Arbeit über die Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit Voraussetzung für das Fortbestehen des Freizügigkeitsrechts sein. Allerdings heißt es dort weiter, dass die Bestätigung erfolge, „wenn der Arbeitnehmer sich arbeitslos meldet, den Vermittlungsbemühungen der zuständigen Arbeitsagentur zur Verfügung steht und sich selbst bemüht, seine Arbeitslosigkeit zu beenden (§138 SGB III)“. Danach betrifft die Bestätigung wiederum ausschließlich die für das Bestehen von Arbeitslosigkeit in §138 Abs.1 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) genannten Voraussetzungen (Beschäftigungslosigkeit, Eigenbemühungen, Verfügbarkeit). Das Bestehen von Arbeitslosigkeit einschließlich der Bereitschaft zur Beendigung der Arbeitslosigkeit wurde von der Bundesagentur für Arbeit unter dem 25. März 2020 gerade bestätigt. Es ist auch nicht ersichtlich, auf welcher Grundlage durch die Bundesagentur für Arbeit ein eigenes Verschulden bezüglich des Eintritts der Arbeitslosigkeit bescheinigt hat. Die Annahme einer Tatbestandswirkung der Bestätigung, ohne eine Rechtsschutzmöglichkeit gegen die Bescheinigung der Agentur für Arbeit wäre mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht vereinbar. Vielmehr dürfte davon auszugehen sein, dass – jedenfalls solange keine Entscheidung der Ausländerbehörde ergangen ist – im Zusammenhang mit der Prüfung eines Anspruchs auf Leistungen nach dem SGB II der Leistungsträger zur Prüfung der Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit im Sinne des unfreiwilligen Arbeitsplatzverlustes im Rahmen des Leistungsanspruchs verpflichtet und diese Entscheidung gerichtlich überprüfbar ist (vgl. auch LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 2. Februar 2018 – L7AS2309/17B – juris Rdnr.20).

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