Gesetzliche Diskriminierung von nicht-deutschen Menschen mit Behinderung muss abgeschafft werden!

Sozialgericht Nürnberg stellt Anspruch auf Eingliederungshilfe für Geflüchtete aus der Ukraine fest

Hier eine Meldung des Paritätischen Gesamtverbands zu einem Beschluss des SG Nürnberg vom 9. März 2023. In dem Eilbeschluss hat das Sozialgericht die Bezirksregierung von Mittelfranken verpflichtet, einem ukrainischen Jungen mit Trisomie 21 Leistungen der Eingliederungshilfe (Besuch einer Heilpädagogischen Tagesstätte) zu gewähren. Der Junge hat eine Aufenthaltserlaubnis nach §24 AufenthG. Zuvor hatte die Behörde die Eingliederungshilfe abgelehnt und dies mit §100 Abs.1 SGB IX begründet. Demnach besteht für nicht-deutsche Staatsangehörige in bestimmten Fällen kein Anspruch auf Eingliederungshilfe, sondern die Bewilligung erfolgt im Einzelfall nur nach Ermessen. Diese Reduzierung auf Ermessensleistungen gilt dann, wenn die Person einen befristeten Aufenthaltstitel besitzt und aus Sicht der Behörde nicht absehbar ist, dass sie sich „voraussichtlich dauerhaft im Bundesgebiet aufhalten wird“ (§100 Abs.1 S.2 SGB IX). Aus Sicht der Behörde ist mit §24 AufenthG nicht von einem dauerhaften Aufenthalt auszugehen, da der Krieg in der Ukraine „noch nicht so lange“ dauere und eine Rückkehr perspektivisch möglich sei. In der Ukraine gebe es eine gute medizinische Versorgung. Deshalb sei die Finanzierung der Tagesstätte „zwar geeignet, den Antragsteller zu fördern und zu integrieren, sie sei aber nicht angemessen. Auch sei sie nicht erforderlich.“

Das Sozialgericht hat im Eilverfahren mit scharfen Worten diese Ablehnung zurückgewiesen und die Behörde zur Bewilligung verpflichtet. Mit einer auf zwei Jahre befristeten Aufenthaltserlaubnis nach §24 AufenthG halte sich der Junge sehr wohl voraussichtlich dauerhaft im Bundesgebiet auf, zumal die Aufenthaltserlaubnis gem. Art.4 Abs.1 der EU-Richtlinie zum Vorübergehenden Schutz (RL 2001/55/EG) verlängerbar sei. Die Argumentation der Behörde, dass die „kurze Dauer der kriegerischen Auseinandersetzung in der Ukraine und der dort vorhandene hohe medizinische Standard gegen einen dauerhaften Aufenthalt des Antragstellers sprechen, geht völlig fehlt. Für das Gericht ist nicht ansatzweise nachvollziehbar, weshalb der über ein
Jahr anhaltende Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine mit Hunderttausenden von Toten, Verletzten und Vertriebenen und massiver Zerstörung ziviler Infrastruktur nach Auffassung der Widerspruchsbehörde einen Konflikt darstellen soll, der wegen seiner kurzen Dauer der Prognose eines dauerhaften Aufenthalts des Antragstellers im Bundesgebiet entgegensteht. (…) Die Ukraine ist seit über einem Jahr einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands, also eines anderen souveränen Staates, mit dem Ziel der existenziellen Vernichtung ausgesetzt. Den allgemeinen, ohne Bezug zum vorliegenden Einzelfall von der Verwaltung vorgenommenen Erwägungen, dass bei vor dem Krieg geflohenen Ukrainern ein dauerhafter Aufenthalt in der Bundesrepublik nicht prognostiziert werden könne, steht im Übrigen z.B. die vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales im Informationsschreiben zur Anwendung des §100 Abs.1 SGB IX bei geflüchteten Menschen mit Behinderung aus der Ukrainer vom 29.04.2022 geäußerte Auffassung entgegen, wonach allgemein davon ausgegangen wird, dass ukrainische Geflüchtete länger, unter Umständen dauerhaft in Deutschland bleiben werden. (…) Letztlich sind aber für die Beurteilung, ob von einem voraussichtlich dauerhaften Aufenthalt des Leistungsberechtigten auszugehen ist, die Umstände des Einzelfalls maßgeblich. Hierzu finden sich in den angefochtenen Bescheiden keinerlei Erwägungen. Auch wurde trotz der bestehenden Pflicht zur Amtsermittlung (vgl. §20 Abs.1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – SGB X) im Verwaltungsverfahren diesbezüglich keinerlei Sachverhaltsaufklärung vorgenommen. Soweit den von Antragstellerseite vorgelegten Unterlagen Anhaltspunkte mit Bezug auf die voraussichtliche Aufenthaltsdauer zu entnehmen sind, sprechen diese für einen dauerhaften Aufenthalt. So haben die Eltern des Antragstellers als gesetzliche Vertreter mit Schreiben vom 27.9.2022 erklärt, dass sie eine Rückkehr in die Ukraine ausschließen und planen, in Deutschland zu bleiben. Dem Antragsteller ist es aber ohne seine Eltern nicht möglich, Deutschland zu verlassen. Auch der von den Eltern angegebene Grund, dass es sich bereits um die zweite Flucht handle, spricht eher gegen einen Willen zur Rückkehr in die Ukraine. Überdies stammen jedenfalls die Eltern des Antragstellers aus Donezk bzw. Debalzewe und somit aus unmittelbar umkämpften, rechtswidrig von Russland annektierten ukrainischen Gebieten. Hat aber der Antragsteller die Absicht, in Deutschland zu bleiben und erscheint die Verstetigung seines Aufenthalts vorliegend rechtlich möglich (siehe dazu oben), ist von einer voraussichtlichen Dauerhaftigkeit des Aufenthalts auszugehen.“

SG Nürnberg, Beschluss vom 9. März 2023, S 5 SO 25/23 ER
Das im Beschluss erwähnte Schreiben des BMAS zum Rechtsanspruch auf Eingliederungshilfe für Geflüchtete aus der Ukraine vom 29. April 2022 gibt es hier.

Über den Einzelfall hinaus macht der Fall einmal mehr deutlich: Die „Ausländer*innenklausel“ bei der Eingliederungshilfe in §100 SGB IX muss schnellstens gestrichen werden! Die diskriminierende Regelung führt dazu, dass Menschen mit Behinderung regelmäßig die ihnen zustehenden Leistungen verweigert werden, obwohl sie aufgrund ihrer Behinderung erforderlich sind. Dies gilt beispielsweise für
– Asylsuchende,
– Geduldete,
– Personen mit verschiedenen (befristeten) Aufenthaltstiteln,
– Unionsbürger*innen und ihre Familienangehörigen.
Nur zur Verdeutlichung hier ein Bescheid des Wetteraukreises vom 11. Dezember 2019, der für ein Kind die Kostenübernahme für Autismustherapie und für einen Integrationsplatz abgelehnt hatte. Die (glasklar rechtswidrige und inhaltlich abwegige!) Begründung der Behörde: Die Mutter habe „nur“ eine Blaue Karte-EU, und damit sei ein „voraussichtlich dauerhafter“ Aufenthalt nicht absehbar. Die Ablehnung begründete sich noch auf den damaligen §23 Abs.1 SGB XII, der bezüglich der Eingliederungshilfe mittlerweile nahezu wortgleich in den §100 Abs.1 SGB IX überführt worden ist.

Die Verweigerung von Leistungen zum Ausgleich einer Behinderung aus migrationspolitischen Gründen widersprechen unter anderem der UN-Behindertenrechtskonvention, bei Minderjährigen der UN-Kinderrechtskonvention, dem Menschenwürdegrundsatz der Verfassung und in bestimmten Fällen Art.19 Abs.2 der EU-Aufnahmerichtlinie (RL 2013/33/EU) sowie Art.14 Abs.1d) der Rückführungsrichtlinie (RL 2008/115/EG). So hat das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen in einem Beschluss vom 1. Februar 2018 (L 8 AY 16/17 B ER) für eine Asylsuchende mit psychischer Behinderung die Kostenübernahme für eine ambulante Betreuung zugesprochen, nachdem das Sozialamt diese zunächst abgelehnt hatte. Der Anspruch besteht für Asylsuchende demnach sowohl bei Analogleistungsbezug gem. §2 AsylbLG, also auch bei Grundleistungsbezug über §6 AsylbLG.

In der Praxis empfiehlt es sich für die Beratung, für alle Klient*innen – unabhängig vom Aufenthaltsstatus und Leistungsanspruch – die erforderlichen Leistungen der Eingliederungshilfe zu beantragen, die in anderen Fällen auch beantragt würden. Bei Ablehnung aufgrund des Aufenthaltsstatus sollten Rechtsmittel und ggfs. auch ein Eilantrag dagegen eingelegt werden. Politisch muss die in §100 SGB IX gesetzlich verankerte Diskriminierung für Menschen mit Behinderung, aber ohne deutsche Staatsangehörigkeit, dringend gestrichen werden.

Hier gibt es hilfreiche Arbeitshilfen zum Thema Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung ohne deutsche Staatsangehörigkeit:
– Passage gGMbH und Caritasverband für die Diözese Osnabrück: „Leitfaden zur Beratung von Menschen mit einer Behinderung im Kontext von Migration und Flucht“ (Mai 2022)
– Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer: „Leistungen der Eingliederungshilfe für Geflüchtete“ (August 2020)
– Deutsches Institut für Menschenrechte: „Geflüchtete Menschen mit Behinderungen – Handlungsnotwendigkeiten für eine bedarfsgerechte Aufnahme in Deutschland“ (März 2018)

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