Der Autor Leo Fischer formuliert es treffend: „Nach einem schrecklichen Mord beruhigt es mich immer zu wissen, dass zum Ausgleich Unbeteiligten die Sozialleistungen gestrichen werden.“
Der furchtbare, mutmaßlich islamistische Mordanschlag von Solingen wird momentan für ganz viele Vorschläge genutzt:
Ein christdemokratischer Spitzenpolitiker ruft wutbürgernd die „nationale Notlage“ aus und zum Bruch des
Grundgesetzes, des EU-Rechts, der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention auf. Politiker*innen fast aller Couleur überbieten sich mit ihren Forderungen nach noch mehr und noch schnelleren Abschiebungen. Und: Für eine ganze Gruppe von Menschen, nämlich Menschen im Dublin-Verfahren, sollen die Sozialleistungen pauschal gestrichen oder gekürzt werden.
Sozialleistungskürzungen als Mittel gegen Terror? Logisch!
„Ich will den Druck erhöhen, dass diejenigen, die kein Bleiberecht haben, aus Deutschland auch tatsächlich ausreisen. Im Übrigen können wir dem deutschen Steuerzahler dadurch viel Geld ersparen, wenn wir den Magnetismus unserer Sozialleistungen abschalten,“ sagt Christian Lindner am 28. August. Er mag die Magnet-Metapher, die auch in rechtsradikalen Kreisen beliebt ist.
Schon im Oktober 2023 sagte er, dass der deutsche Sozialstaat „mit seinen im europäischen Vergleich sehr hohen Leistungen wie ein Magnet wirkt." Das müsse abgeschaltet werden. Ebenfalls im Oktober 2023 veröffentlichte er zusammen mit FDP-Justizminister Buschmann in der „Welt am Sonntag“ einen Gastbeitrag, in dem die beiden ausführlich darlegen, wie aus ihrer Sicht Sozialleistungen für Geflüchtete gekürzt und gestrichen werden könnten.
Die rechtswissenschaftliche Grundlage für diese Agenda von Neoliberalen und Konservativen, den Sozialstaat noch weiter unter Nationalvorbehalt zu stellen (und auch ansonsten zu beschneiden), bildet ein Gutachten des Konstanzer Juristen Daniel Thym, das dieser im September 2023 für die Unionsfraktion im Bundestag erstellt hatte. Darin setzt sich Thym mit „rechtlichen Spielräumen zur Einschränkung von Asylbewerberleistungen und sonstiger Sozialleistungen für Personen mit Fluchthintergrund sowie der Ausweitung des Sachleistungsprinzips“ auseinander.
Das Gutachten gibt konkrete Handlungsempfehlungen, an welchen Stellen Sozialleistungen unter anderem für Asylsuchende und Geduldete gekürzt oder ganz gestrichen werden können. Unter anderem schlägt er darin auch eine Verfassungsänderung vor, die die Geltung des Gleichheitsgrundsatzes und den Anspruch auf die Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums für Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit relativieren soll. Diesen und andere Vorschläge übernahm die CDU/CSU stantepede und brachte einen entsprechenden Antrag im Bundestag ein. Auch die Kürzung bzw. Streichung der Leistungen für Dublin-Fälle ist in dem Gutachten ausführlich Thema.
Man hat den Eindruck: Die rechte Agenda, den sozialstaatlichen Gewährleistungsanspruch für Nicht-Deutsche schrittweise zu schleifen, soll nun Schritt für Schritt abgearbeitet werden. Die ersten Diskriminierungsvorhaben durch Einführung der Bezahlkarte und Verlängerung des niedrigeren Grundleistungsbezugs nach § 3 AsylbLG sind schon abgehakt worden. Nun stehen die Leistungskürzungen bzw. -streichungen für Dublin-Fälle als nächstes auf der noch langen TOP-Liste.
Die FDP hat die Sozialleistungskürzungen letzte Woche in der Bundesregierung durchgesetzt: Sie haben Eingang in ihr „Sicherheitspaket“ als Reaktion auf den mutmaßlichen Terroranschlag gefunden – als hätten soziale Ausschlüsse auch nur einen Hauch mit „Sicherheit“ zu tun. Die Umdeutung der Tatsachen wirkt. Im Kern geht es um ein Downgrading des Niveaus der sozialen Absicherung mit dem Ziel, es in Deutschland mindestens genauso mies zu machen wie in vielen anderen EU-Staaten, aus denen Menschen wegen der Gefahr von Verelendung weiterfliehen.
Daniel Thym bezeichnet das in seinem Gutachten als die Beendigung des „Gold-Plating“. Man könnte es auch nennen: Vertreibung durch soziale Exklusion.
Deutschland hat schon langjährige Erfahrung mit diesem Instrument, wenn es um die Behandlung nicht-erwerbstätiger Unionsbürger*innen geht.
Den vollständigen Text könnt ihr hier nachlesen. Er umfasst folgende weitere Punkte:
1. Was hat die Bundesregierung bei den Leistungen in Dublin-Fällen eigentlich konkret vor?
2. Wäre das mit geltendem EU-Recht vereinbar?
3. Ist eine Leistungskürzung oder -streichung mit künftigem EU-Recht zu vereinbaren?
4. Ist eine Leistungskürzung oder -streichung mit dem Grundgesetz zu vereinbaren?