NRW: Regelsatzstufe 1 in Gemeinschaftsunterkünften auch bei Grundleistungen

Das MKJFGFI NRW hat angekündigt, dass in NRW die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Regelsatzstufe 1 für alleinstehende Analogleistungsbeziehende nach §2 AsylbLG in Gemeinschaftsunterkünften „unverzüglich“ auch auf die Grundleistungen nach §3/3a AsylbLG übertragen wird. In einer Mail des Ministeriums vom 21.12. 2022 heißt es:
„Es ist zutreffend, dass in Nordrhein-Westfalen unverzüglich auch alleinstehende Grundleistungsbeziehende die Regelbedarfsstufe 1 erhalten. Zu Einzelheiten stehen wir allerdings noch in Abstimmung mit dem Bund sowie im Länderkreis. Bitte haben Sie Verständnis, dass ich Ihnen insoweit keinen Erlass zur Verfügung stellen kann. Zu gegebener Zeit werden wir über die jeweiligen Bezirksregierungen in den Einrichtungen informieren.“

Ausgangspunkt ist, dass das BVerfG in seinem am 24.11. 2022 veröffentlichten Urteil bekanntlich die gesetzlich vorgesehene Regelbedarfsstufe 2 für Alleinstehende in Sammelunterkünften für verfassungswidrig erklärt hat. Das BVerfG hat das zwar formal nur für die Analogleistungen nach §2 AsylbLG entschieden, jedoch liegt auf der Hand, dass dies für die Grundleistungen nach §3/3a AsylbLG nicht anders beurteilt werden kann und wird. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) hatte daher bereits am Tag der Urteilsverkündung die Länder darüber informiert, dass es seine eigene gesetzliche Regelung offensichtlich jetzt auch bei Grundleistungsbeziehenden für verfassungswidrig hält, und diese deshalb ebenfalls die Leistungen nach Regelbedarfsstufe 1 erhalten sollten (so die Antwort von Staatssekretärin Annette Kramme auf eine mündliche Frage der Linken-Abgeordneten Clara Bünger).

Für die Praxis heißt das für die Leistungsberechtigten nach §3/3a AsylbLG aus meiner Sicht:
– Falls im Januar 2023 nur Regelbedarfsstufe 2 ausgezahlt werden sollte, sollte dagegen mit Verweis auf die Rechtsauffassung des MKJFGFI und des BMAS Widerspruch eingelegt werden, um sich eine spätere Nachzahlung der Differenz zu sichern. Ob die Nachzahlung für Januar aufgrund des zu erwartenden Erlasses auch ohne Widerspruch automatisch erfolgen würde, ist nämlich noch unklar.
– Zudem sollten gegen alle Bescheide, die am 24. November 2022 noch nicht bestandskräftig waren sowie für Dezember 2022 Widerspruch eingelegt werden, um Nachzahlungen für den Fall zu sichern, dass das Bundesverfassungsgericht später auch die Regelsatzstufe 2 bei den Grundleistungen für verfassungswidrig erklären wird. Es ist nämlich wahrscheinlich, dass es Nachzahlungen nur anordnen wird für Zeiträume, die zum Zeitpunkt des zu erwartenden Urteils noch nicht bestandskräftig waren. Die Bestandskraft kann durch Widerspruch (und anschließend einzulegende Klagen beim Sozialgericht) verhindert werden.

Hier gibt es hilfreiche Arbeitshilfen zum Thema, z.T. auch mit Musterwidersprüchen:
Arbeitshilfe von Roland Rosenow von der Diakonie Deutschland
Folienpräsentation von Rechtsanwalt Volker Gerloff
Mehrere Newsletter von Rechtsanwalt Volker Gerloff zum Thema (Nr.19–22)
Arbeitshilfe der GGUA

Hier gibt es eine Liste von Rechtsanwält*innen, die diese Fälle übernehmen können.

Die Sicherung rückwirkender Leistungsansprüche ist mit einem recht großen individuellen Aufwand verbunden – sowohl für Betroffene, für Unterstützende wie auch für Behörden. Dieser Aufwand ist allerdings gerechtfertigt. Denn das AsylbLG ist als Ganzes ein rassistisches und diskriminierendes System, das nicht die existenzsichernde und angemessene Versorgung der Betroffenen zum Ziel hat, sondern in erster Linie deren Abschreckung, Ausschluss und Drangsalierung dient. Es missachtet an einer Vielzahl von Stellen verfassungsrechtliche Standards: Menschenwürde, körperliche Unversehrtheit, Gleichheitsgrundsatz, Sozialstaatsprinzip, Verhältnismäßigkeitsgebot usw. Dies gilt z.B. bei der Gesundheitsversorgung, bei den Leistungskürzungen nach §1a, beim Leistungsausschluss nach §1 Abs.4, bei der Höhe der Grundleistungen allgemein, bei der Anrechnung von Einkommen und Vermögen (kleines Beispiel: Vermögensfreibetrag für Alleinstehende während der Karenzzeit im SGB II: 40.000 Euro, Vermögensfreibetrag bei Grundleistungen AsylbLG: 200 Euro; Stichwort: Verhältnismäßigkeitsgebot).

Die politisch gewollte Regelsatzstufe 2 statt 1 fügt sich nahtlos in diese Reihe ein: Diese wurde 2019 von der Bundesregierung vorgeschlagen und von der Bundestagsmehrheit beschlossen, obwohl den Verantwortlichen schon damals bewusst gewesen sein musste, dass sie verfassungswidrig ist. Der Verfassungsbruch wurde achselzuckend eingepreist – auf dem Rücken der Betroffenen. So etwas darf nicht hingenommen werden, es muss das Zeichen gesetzt werden, dass sie sich gegen eine solche Instrumentalisierung zur Wehr setzen. Das AsylbLG ist ein Gesetz, das politisch und juristisch im Ganzen und im Detail bekämpft gehört – solange es nicht endlich abgeschafft ist.

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