Neuere Gerichtsentscheidungen zu Leistungsansprüchen von Unionsbürger*innen

Die sozialrechtliche Ausgrenzung von Unionsbürger*innen ist in den letzten Wochen aufgrund der Ukraine-Thematik ziemlich in den Hintergrund gerückt. In der Beratungspraxis bleibt das Thema jedoch weiterhin virulent, denn nach wie vor müssen Unionsbürger*innen zum Teil ohne jegliche Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums in Deutschland leben. Zwischenzeitlich gibt es einige neue Gerichtsentscheidungen zu bestimmten Fragen von Leistungsansprüchen, die für die Beratung nicht unwichtig sein könnten:

1. Bundessozialgericht, Urteil vom 9.3.2022; B 7/14 AS 79/20 R: Eine Vorbeschäftigungszeit von genau einem Jahr führt bei unfreiwilliger Arbeitslosigkeit grundsätzlich zu einem unbefristeten Fortbestand des Arbeitnehmer*innen-Status und damit zu einem fortbestehenden SGB II-Anspruch. Der Arbeitnehmer*innenstatus und der SGB II-Anspruch enden in diesem Fall nicht nach sechs Monaten Arbeitslosigkeit. Aus dem Terminbericht: „Der Kläger war vom 1. März 2012 bis 28. Februar 2013 als Arbeitnehmer beschäftigt. Hieraus folgt freizügigkeitsrechtlich, dass sein Aufenthaltsrecht auch über Februar 2013 hinaus und ohne die in § 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG/EU vorgesehene zeitliche Begrenzung auf 6 Monate aufrechterhalten bleibt. Denn die zeitlich unbegrenzte Fortwirkung des Arbeitnehmerstatus knüpft auch an ein genau ein Jahr bestehendes Beschäftigungsverhältnis an.“

2. Bundessozialgericht, Urteil vom 9.3.2022; B 7/14 AS 91/20 R: Arbeitnehmer*innenstatus bleibt für die Dauer der Elternzeit (bis zu drei Jahre pro Kind) bestehen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn das Arbeitsverhältnis nicht beendet ist, sondern wegen der Elternzeit nur ruht. Damit bleibt auch ein SGB-II-Anspruch bestehen.

3. Landessozialgericht Hamburg, Urteil vom 2.12.2021 - L 4 AS 127/20: Eine selbstständige Tätigkeit als Verkäufer*in der Straßenzeitung kann zu einem Freizügigkeitsrecht als Selbstständige und damit zu einem ergänzenden Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II führen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn mit dem Verkauf der Straßenzeitung eine Gewinnerzielungsabsicht verfolgt wird. Aus dem Urteil: „Eine Gewinnerzielungsabsicht muss nicht vorrangiges oder einziges Ziel sein, sie muss aber vorhanden sein. Rein karitative Tätigkeiten fallen nicht hierunter; die Tätigkeit muss daher erwerbsorientiert sein, wobei alle Tätigkeiten erfasst werden, sofern sie mit einer entgeltlichen Gegenleistung verbunden sind und eine Teilnahme am Wirtschaftsleben darstellen (vgl. BSG, Urteil vom 3.12.2015 – B 4 AS 44/15 R, Rn. 28 m.w.N.). Unter Anwendung dieser Maßstäbe ist die Tätigkeit der Kläger als selbständige Tätigkeit anzusehen. Der Verkauf des Magazins K1 stellt eine Teilnahme am Wirtschaftsleben dar und ist nicht lediglich als „Bettelei“ einzustufen.“

4. LSG Bayern, Beschluss v. 10.02.2022; L 7 AS 539/21 B ER: Eine (nur) arbeitssuchende italienische Staatsangehörige kann trotz Leistungsausschluss nach dem SGBG II einen Leistungsanspruch auf Sozialhilfeleistungen nach dem SGB XII aufgrund des Europäischen Fürsorgeabkommens haben. Der Antrag auf Leistungen nach dem SGB II führt dazu, dass das zuständige Sozialamt Kenntnis von der Hilfebedürftigkeit hatte (§16 SGB I). Der Aufenthalt ist auch nach mehr als sechs Monaten materiell rechtmäßig, wenn die Person sich weiterhin um Arbeit bemüht und es nicht von vornherein aussichtslos ist, dass sie Arbeit finden wird. Aufgrund Art.1 EFA ist der Leistungsausschluss für Arbeitsuchende im SGB XII für Angehörige der EFA-Staaten (hier Italien) nicht anwendbar.

5. LSG NRW, Beschluss v. 08.12.2021; L 12 AS 1644/21 B ER: Keine durchgehende Wohnsitzanmeldung von fünf Jahren für den Leistungsanspruch nach SGB II (Anspruch gem. §7 Abs.1 S.4 SGB II nach fünfjährigem gewöhnlichen Aufenthalt) erforderlich. Erforderlich ist lediglich ein fünfjähriger gewöhnlicher Aufenthalt im Bundesgebiet, der auch anderweitig glaubhaft gemacht werden kann (Zeug*innenaussagen, eidesstattliche Versicherung)

6. LSG Saarland, Urteil v. 22.02.2022; L 4 AS 1/19: Anspruch auf SGB II für slowenische Mutter eines deutschen Kindes. Eine Aufenthaltserlaubnis nach §28 AufenthG war noch nicht erteilt worden, das Jobcenter muss aber in eigener Verantwortung prüfen, ob die materiellen Voraussetzungen dafür erfüllt waren: „Der Klägerin als Mutter eines deutschen minderjährigen Kindes, für das sie die Personensorge hierzulande gemeinsam mit dem deutschen Kindsvater ausübt, existenzsichernde Leistungen nach dem SGB II wegen eines noch nicht ausgestellten Aufenthaltstitels bei tatsächlich bestehendem Aufenthaltsrecht zu verweigern, wäre mit Art.6 GG schlechterdings nicht zu vereinbaren.“

Hier die aktualisierte Rechtsprechungsübersicht

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