Im März wurde die Abschiebung eines kurdischen Mannes erst auf dem Weg zum Flughafen abgebrochen – obwohl das Verwaltungsgericht Minden die geplante Abschiebung in die Türkei bereits am Vortag gerichtlich stoppte. Nachdem der Fall durch einen Report des Abschiebungsreporting NRW öffentlich wurde, wollte keine:r für die Verfehlungen verantwortlich sein: Der Kreis Gütersloh schob die Schuld auf das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und das BAMF auf den Kreis Gütersloh, wie die Neue Westfälische und das Haller Kreisblatt berichteten.
Die genauen Abläufe sind noch immer nicht abschließend geklärt, doch die SPD-Fraktion hat im NRW-Landtag mehrere Anfragen gestellt. Aus den Antworten des Ministeriums für Flucht und Integration geht folgendes hervor: Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) erfuhr bereits am 8. März 2023 um 14.56 Uhr von dem Gerichtsbeschluss, der die Abschiebung als unzulässig erklärte. Auch die Zentrale Ausländerbehörde Bielefeld wurde vom Gericht wenige Minuten später, um 15.01 Uhr, informiert (s. LT-Drs. 18/4149). Wann der Kreis Gütersloh als örtlich zuständige Ausländerbehörde vom Gerichtsbeschluss erfuhr, geht aus den Antworten des Ministeriums für Flucht und Integration nicht hervor. Doch der Anwalt des Betroffenen hatte den Kreis Gütersloh ebenfalls bereits am 8. März 2023 über den Gerichtsbeschluss informiert. Nur das Abschiebegefängnis Büren, wo der Betroffene inhaftiert war, habe bis zum Abbruch der Abschiebemaßnahme nicht über den Gerichtsbeschluss Bescheid gewusst, so das Ministerium für Flucht und Integration in einer weiteren Antwort (s. LT-Drs. 18/4210).
Wenn mindestens zwei Behörden rechtzeitig vom Gerichtsbeschluss gewusst haben – wie kann es dann sein, dass der Mann trotzdem am Folgetag, dem 9. März 2023, abgeholt wurde? Haben sowohl das BAMF als auch die ZAB Bielefeld am Nachmittag des 08. März 2023 den Gerichtsbeschluss liegen lassen? Oder setzten sie sich bewusst darüber hinweg, um den geplanten Abschiebetermin beizubehalten?
In seiner Antwort an den Landtag betont das Ministerium, dass das BAMF den Kreis Gütersloh nicht umgehend noch am 8. März 2023 über den Gerichtsbeschluss informiert habe. Klagegegner vor Gericht war das BAMF. Das Gericht hatte das BAMF verpflichtet, die Ausländerbehörde des Kreises Gütersloh anzuweisen, bis zur Entscheidung über den Asylfolgeantrag des Mannes von „aufenthaltsbeendenden Maßnahmen“ abzusehen.
Nimmt das Ministerium den Kreis Gütersloh hier in Schutz und weist die Verantwortung für den Abschiebeversuch allein dem BAMF zu? So richtig deutlich wird das aus der öffentlichen Antwort nicht. Man führe „Gespräche zur Verfahrensoptimierung“ mit den beteiligten Behörden, so das Ministerium weiter. So wurde etwa in einem neuen Erlass vom 10. Februar 2023 die Zentralstelle des Landes Nordrhein-Westfalen für Flugabschiebung (ZFA) als zentrale Ansprechstelle benannt, wenn Verwaltungsgerichte Nachfragen zu bevorstehenden oder laufenden Luftabschiebungen haben, so das Ministerium weiter. Dadurch würden der zeitgerechte Informationsaustausch zwischen Gerichten und Vollzugsbehörden gewährleistet. Die ZFA ist Teil der Zentralen Ausländerbehörde Bielefeld.
Der Erlass ist auch eine Reaktion der Landesregierung auf eine widerrechtliche Abschiebung eines schwer erkrankten und suizidgefährdeten Mannes aus dem Kreis Viersen im Herbst 2022, die entgegen eines Gerichtsbeschlusses nicht abgebrochen worden war. Das Oberverwaltungsgericht NRW hatte daraufhin im November 2022 in einem Rundschreiben an alle Ausländerbehörden in NRW seine Rechtsmeinung zu laufenden Flugabschiebungen mitgeteilt. Der Erlass vom 10. Februar 2023 liegt dem Abschiebungsreporting NRW aktuell noch nicht vor. Eine genauere Bewertung steht daher noch aus.
Weil auch Wochen nach dem rechtswidrigen Abschiebeversuch des Kreises Gütersloh noch nicht alles aufgeklärt ist, befasste sich letzte Woche nun der Integrationsausschuss im Landtag NRW anlässlich dieses Falles mit Abschiebungen aus dem Abschiebegefängnis Büren. Der vor der Sitzung bereit gestellte Bericht des Ministeriums für Flucht und Integration brachte allerdings erneut nichts Neues, sondern referierte allein die Rechtslage (LT-Vorlage 18/1267 A 19). Das Abschiebungsreporting NRW wird den weiteren Verlauf der Aufklärung genau beobachten und weiter berichten. Denn: Fallkonstellationen wie die des kurdischen Mannes sind kein Einzelfall. Asylfolgeanträge können selbstverständlich auch aus den Abschiebegefängnissen heraus gestellt werden und müssen dann unter Achtung aller rechtsstaatlichen Grundsätze fair geprüft werden. Gerichtsentscheidungen ist umgehend zu folgen, sonst ist der Rechtsstaat in Gefahr.
In dem Fall des kurdischen Mannes ging es zudem um nicht weniger als die Frage einer möglichen drohenden Inhaftierung nach der Abschiebung in die Türkei aufgrund von Verfolgung, wie der Anwalt des Mannes dem WDR im März geschildert hatte. Wiebke Judith und Kerem Schamberger zeigen im jüngst veröffentlichten Grundrechte-Report 2023, wie das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge immer wieder den notwendigen Schutz von in der Türkei politisch Verfolgten verkennt.