Weder eine behandlungsbedürftige Multiple Sklerose noch der Verdacht auf eine Krebserkrankung waren für die Zentrale Ausländerbehörde Köln Grund genug, die Abschiebung einer georgischen Apothekerin vorläufig auszusetzen. Mit einem Sammelcharter der Fluglinie Georgian Airways wurde die Frau am 26. November 2024 gemeinsam mit ihrem Ehemann vom Flughafen Düsseldorf aus nach Georgien abgeschoben. Beide waren erst wenige Tage zuvor in die Landesnotunterkunft für Geflüchtete in Marmagen (Kreis Euskirchen) verlegt worden, da die Zentrale Unterbringungseinrichtung Kreuzau (Kreis Düren), wo sie über viele Monate lebten, geschlossen wurde. Die MS-Behandlung der Frau wurde mit der Abschiebung abrupt abgebrochen.
Die 45-jährige Frau, die privat in Georgien eine gewisse Bekanntheit als Sängerin hat, leidet an einer fortschreitenden Multiplen Sklerose, infolge derer sie auf einen Rollstuhl angewiesen ist. Zudem besteht der Verdacht auf eine Leukämieerkrankung. Trotzdem wurde die Abschiebung ohne Rücksicht auf schwerwiegende Konsequenzen für ihre Gesundheit vollzogen. In Deutschland wurde bereits eine Behandlung der MS mit dem Medikament Ocrevus begonnen, die im mehrmonatigen Abstand fortgesetzt werden muss. Der nächste Behandlungstermin wäre im April 2025.
In Georgien dagegen wird die medizinische Versorgung bei dieser Erkrankung nicht von der staatlichen Krankenversicherung gewährleistet, sondern ist nur im Rahmen von Studien zugänglich. Bei einem Gespräch am 11. März 2025 mit dem Abschiebungsreporting NRW berichtete die Betroffene, dass sie seit ihrer Abschiebung im November 2024 medikamentös unversorgt sei. Sie hat sich nach ihrer Rückkehr nach Georgien an das dortige Gesundheitsministerium gewendet mit der Bitte um medizinische Versorgung. Dies blieb allerdings erfolglos.
Aufgrund der fehlenden Barrierefreiheit an ihrem Wohnort in Georgien verbringt sie zudem den Großteil ihres Lebens zuhause. Damit wird ihr Recht auf Teilhabe verletzt. Auch ihrem Beruf kann sie zurzeit nicht nachgehen.
Um die Abschiebung abzuwenden, machte der Anwalt der Frau gegenüber dem Verwaltungsgericht Aachen einen Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention geltend. Diese verbietet Abschiebungen mit der Folge einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung, wie im Fall der Betroffenen, wo eine Abschiebung das rapidere Fortschreiten ihrer Behinderung bedeuten würde, weil die Behandlung nicht finanzierbar ist.
Es ist bekannt, dass es kaum noch möglich ist, eine Abschiebung über Atteste und andere medizinische Nachweise aufzuschieben oder gar zu verhindern, da die gesetzlichen Hürden dafür sehr hoch sind. Doch in diesem Fall ist die gerichtliche Entscheidung geradezu ignorant: Im sehr knappen Urteil der 8. Kammer des Verwaltungsgerichts Aachen vom 22. August 2024 (Az. 8 K 93/24.A) heißt es: „Zwar mag es sich bei der Erkrankung – worauf die Kläger zurecht mit Blick auf die Erkenntnislage hinweisen – um eine Erkrankung handeln, die in Georgien nur in Studien kostenlos behandelbar ist, es fehlt jedoch an einem ärztlichen Attest i.S.d. §60a Abs.2c AufenthG.“
Der Richter hat sich nicht die Mühe gemacht, zu prüfen, ob die Behandlung der MS-Erkrankung in Georgien für die Frau konkret möglich ist. Stattdessen schlug er vor, die Frau solle doch mit einem neuen Attest einen weiteren Antrag auf Prüfung von Abschiebungshindernissen stellen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hatte zuvor den Asylantrag und die Zuerkennung von Abschiebungsverboten abgelehnt, was für die Zentrale Ausländerbehörde Köln die rechtliche Grundlage der zwangsweisen Abschiebung war.
Dabei ignoriert das Gericht völlig, wie hochschwellig der Zugang zu einem solchen Attest ist. Für die Betroffene schier unüberwindbare Hürden blieben vom Richter unbeachtet: die eingeschränkte ärztliche Versorgung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz; der mangelhafte Zugang zu ärztlicher Versorgung im ländlichen Raum; sowie die fehlende regelhafte Sprachmittlung für den Kontakt mit Behörden, Ärzt:innen und Anwält:innen.
Das Asylbewerberleistungsgesetz begrenzt die Behandlungsmöglichkeiten in der ersten Zeit des Aufenthaltes auf die Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände. So war es für die schwererkrankte Betroffene sehr mühsam, die dringend notwendigen medizinischen Untersuchungen zu erhalten. Für viele Behandlungen und Beratungsangebote musste die Frau sich jeweils von der Unterkunft in Kreuzau-Drove in die Städte Düren und Köln begeben, mit all den damit verbundenen Herausforderungen im Hinblick auf die vielfach fehlende Barrierefreiheit des Öffentlichen Personennahverkehrs.
Ein rascherer Ausweg hätte eine Arbeitsaufnahme ihres Ehemannes sein können: als Familienangehörige wäre auch die Frau in die gesetzliche Krankenversicherung aufgenommen worden und hätte damit keinen Versorgungseinschränkungen mehr unterlegen.
Doch als der Ehemann im August 2024 einen Job gefunden hatte, lehnte die Zentrale Ausländerbehörde Köln die Arbeitserlaubnis ab. Grund dafür war, dass Georgien Ende 2023 von Bundestag und Bundesrat zum sogenannten „sicheren Herkunftsstaat“ erklärt worden war. Seit dem gilt für alle georgischen Geflüchteten, die wie die Betroffenen ihren Asylantrag nach dem 30. August 2023 gestellt haben, ein pauschales Arbeitsverbot – sowohl während des Asylverfahrens als auch danach.
Die Apothekerin berichtete dem Abschiebungsreporting NRW auch, dass sie im Oktober 2020 nach einer Teilnahme als Wahlbeobachterin bei der georgischen Parlamentswahl Opfer von tätlicher Gewalt geworden ist. Fotos der Verletzungen liegen dem Abschiebungsreporting NRW vor. Die Frau ist Mitglied in der Oppositionspartei Vereinte Nationale Bewegung. Dessen bekanntestes Mitglied, der seit 2021 inhaftierte frühere georgische Präsident Michail Saakaschwili, wurde jüngst zu zwei weiteren Haftstrafen verurteilt (hier und hier). Die Frau war nach dieser Gewalttat für einige Zeit nach Italien umgezogen, kehrte schließlich aber nach Georgien zurück, ehe sie nach Nordrhein-Westfalen kam. Wenige Tage nach der Abschiebung des Ehepaares aus Marmagen begannen in Georgien die nun bereits seit über vier Monaten andauernden Massenproteste gegen die georgische Regierung, die vielfach mit brutaler Gewalt der Behörden beantwortet wurden. Auch davor hat die Familie große Angst. Die Bundesregierung hat mittlerweile mehrfach Einreiseverbote gegen georgische Beamt:innen erlassen, die für die Gewalt Verantwortung tragen sollen. An der Einstufung als „sicherer Herkunftsstaat“ wird aber dogmatisch festgehalten, was sowohl rechtliche als auch tatsächliche Folgen für Schutzsuchende in Nordrhein-Westfalen hat.