Der Leistungsausschluss von nur arbeitsuchenden Unionsbürger_innen von den Leistungen des SGB II (und damit dem offiziellen menschenwürdigen Existenzminium) steht erfreulicherweise endlich ernsthaft auf der Kippe:
Nachdem jahrelang fast keine Hauptsacheentscheidungen (sondern nur Eilbeschlüsse) vor den Landessozialgerichten zu dieser Grundsatzfrage ergangen sind, haben in den letzten Wochen gleich drei LSG (Hessen, Bayern und NRW – das Urteil hierzu liegt mir noch nicht vor) positive Urteile zu dieser Frage gefällt. Hinzu kommt ein ebenfalls positives Urteil des Bundessozialgerichts vom 30. Januar 2013.
In sämtlichen genannten Urteilen wird zugunsten der Kläger_innen aus Unionsstaaten ein Leistungsanspruch festgestellt. Die Begründungen sind allerdings durchaus unterschiedlich, so dass die Argumentation hier jeweils noch einmal kurz dargestellt werden soll. Es ist absehbar, dass mit diesen ganz überwiegend positiven Entscheidungen der pauschale Leistungsausschluss rechtlich kaum noch haltbar sein dürfte und es somit jetzt noch aussichtsreicher ist, gegen eine Ablehnung des Jobcenters vor dem Sozialgericht erfolgreich zu sein.
Der systematische Ausschluss einer ganzen Bevölkerungsgruppe selbst von der Gewährung eines physischen Existenzminimums – vom soziokulturellen Existenzminimum gar nicht zu sprechen – ist damit hoffentlich bald Geschichte.
Ein Überblick über die Rechtsprechung der letzten Jahre zu dieser Frage findet sich hier (Dokument herunterladen und abspeichern, da es evtl. sonst fehlerhaft angezeigt wird).
Die Urteile des LSG Hessen (7. Senat); 20.9.2013; L 7 AS 474/13 und des LSG Bayern, (16. Senat), 19.6.2013; L 16 AS 847/12 begründen ihre positive Entscheidung zugunsten eines griechischen bzw. italienischen Staatsbürgers, die nach Auffassung des Gerichts jeweils nur zum Zweck der Arbeitsuche über ein Aufenthaltsrecht verfügen, mit der Europarechtswidrigkeit des Leistungsausschlusses von § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II („Ausgenommen sind Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen“).
Nach Auffassung der Richter_innen widerspricht dieser Leistungsausschluss sowohl Art. 24 UnionsRL (Unionsbürgerrichtlinie) als auch Art. 4 i. V. m. Art. 70 VO (EG) 883/2004 (Verordnung zur Koordinierung der Systeme der Sozialen Sicherheit in Europa). In beiden europarechtlichen Regelungen ist ein Gleichbehandlungsgebot formuliert, nach dem Unionsbürger_innen in anderen Unionsstaaten nicht schlechter gestellt werden dürfen als die eigenen Staatsangehörigen. Dieses Gleichbehandlungsgebot gilt auch für die Leistungen des SGB II und auch für nur arbeitsuchende Unionsbürger_innen.Das Urteil des LSG NRW (L 19 AS 129/13) vom 10. Oktober 2013 bezieht sich auf eine rumänische Familie mit Kindern, die lange Zeit allein vom Kindergeld und dem Verkauf der Obdachlosenzeitung (über-)lebten und erfolglos Arbeit suchten. Laut Medienberichten sprach das LSG NRW einen Leistungsanspruch zu, ohne auf die europarechtlichen Widersprüche einzugehen: "Nach längerer objektiv aussichtsloser Arbeitssuche" (in den Medien ist von einem Zeitraum von sechs bis neun Monaten die Rede) wechseln die Betroffenen nach Auffassung des Gerichts die „Freizügigkeitsschublade“ von „zur Arbeitsuche“ in „nicht-erwerbstätig / ohne Aufenthaltsgrund“. Für „nicht-erwerbstätige / ohne Aufenthaltsgrund freizügigkeitsberechtigte“ Unionsbürger_innen besteht jedoch schon nach dem Wortlaut des § 7 SGB II kein Leistungsausschluss und somit waren die Leistungen zu gewähren.
Dieses Freizügigkeitsrecht bleibt auch ohne das Vorhandensein ausreichender Existenzmittel so lange bestehen, bis die Ausländerbehörde im Rahmen einer Ermessensentscheidung eine Verlustfeststellung trifft – die dann ausländerrechtlich wegen des Fehlens der Voraussetzungen für ein Freizügigkeitsrecht theoretisch möglich wäre. Wichtig ist allerdings: Das Freizügigkeitsrecht endet nicht automatisch, sondern nur im Rahmen eines begründeten, das Ermessen ausübenden Verwaltungsakts der Ausländerbehörde. Eine solche Verlustfeststellung hätte zudem (sehr zum Ärger von Bundesinnenminister Friedrich) keine Wiedereinreisesperre zur Folge.
Das LSG NRW stützt sich in dem Urteil offensichtlich auf die Argumentation, die es auch bereits in zwei Eilentscheidungen vom 22.8.2013 und 19.7.2013 vorgebracht hatte.Das Bundessozialgericht hatte bereits im Januar in einem Urteil einer rumänischen Staatsbürgerin, die von einem griechischen Staatsbürger mit über achtjährigem Aufenthalt in Deutschland schwanger war, die Leistungen nach dem SGB II zugesprochen. Nach Auffassung des BSG konnte bei der Frau gerade nicht positiv festgestellt werden, dass sie nur über ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche verfüge, sondern sie verfügte zudem über einen anderen Aufenthaltsgrund, der sich aus der Vorwirkung des Schutzes der Familie ergebe.
In diesem Urteil haben die Richter erhebliche Zweifel daran zu erkennen gegeben, ob ein unbefristeter Leistungsausschluss für arbeitsuchende Unionsbürger_innen europarechtskonform ist. Allerdings haben sie diese Frage formal nicht entschieden, sondern offen gelassen.
Beim Bundessozialgericht sind weiterhin zwei Verfahren anhängig, in denen es ebenfalls um die Zulässigkeit eines Leistungsausschlusses geht. Zudem hat das Sozialgericht Leipzig in einem Vorlagebeschluss an den EUGH das höchste europäische Gericht um Stellungnahme zur Zulässigkeit des Leistungsausschlusses gebeten (S 17 AS 2198/12).
Zu hoffen ist, dass mit diesen positiven Entscheidungen in absehbarer Zeit der Leistungsausschluss endgültig vom Tisch sein wird und damit endlich auch das nationale Leistungsrecht im Bereich der Existenzsicherung die Realität eines zusammen wachsenden Europas anerkennt. Eine Sozialpolitik nach „Hausherr_innen-Art“ getreu dem Motto: „Die waren nicht zur Party eingeladen, dann bekommen sie auch nichts vom Buffet sondern dürfen allenfalls das Geschirr abwaschen (bzw. die Schweine für das Festmahl schlachten)“ ist anachronistisch und eines modernen Gesellschaftsverständnissses gänzlich unangemessen.
Oder, um es mit Prof. Thorsten Kingreen, Verwaltungsrechtler an der Uni Regensburg, etwas wissenschaftlicher auszudrücken:
„Sozialrechtliche Zugehörigkeit emanzipiert sich von den formalen staatsrechtlichen Kategorien, die für die Frage, was ein Mensch für die Sicherung seiner Existenz benötigt, ohnehin niemals Bedeutung hatte. Normen, die Ausländer beim Bezug existenzsichernder Leistungen gleichwohl nach wie vor gegenüber Inländern benachteiligen, sind allenfalls noch Ausdruck symbolischer Sozialpolitik, die suggeriert, man könne das Sozialsystem durch Leistungsbeschränkungen zu Lasten einzelner gesellschaftlicher Gruppen sanieren. Als Signal an die Betroffenen, nicht dazuzugehören, ist sie integrationspolitisch indes eher kontraproduktiv.“ (aus: Staatsangehörigkeit als Differenzierungskriterium im Sozialleistungsrecht. SGb - Die Sozialgerichtsbarkeit 03/13)
Ganz abgesehen davon, dass dies außerdem schlicht verfassungswidrig ist...