EU-Freizügigkeit: Friedrich schwingt die große Keule...

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Ist die Inanspruchnahme eines verfassungsrechtlich garantierten Menschenrechts ein Akt besonders schwerer Kriminalität? Nach Auffassung von Bundesinnenminister Friedrich: ja. Mit seiner Forderung, Unionsbürger_innen, die in Deutschland „missbräuchlich“ Sozialleistungen beziehen, auszuweisen und mit einer Wiedereinreisesperre zu versehen, ignoriert Bundesinnenminister Friedrich nicht nur die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, sondern auch die Rechtsauffassung seines eigenen Ministeriums.

Seine dreiste Scheinargumentation funktioniert nur durch einen äußerst abstrusen Trick: Er erklärt das Stellen eines Hartz-4-Antrags durch mittellose Unionsbürger_innen in Deutschland gleichsam zu einem staatsgefährdenden Akt, durch den die Öffentliche Sicherheit und Ordnung bedroht sind.

Lassen wir uns ausgehen von den Fakten:

  1. Jede_r Unionsbürger_in – sogar arme Rumän_innen und Bulgar_innen – verfügt in Deutschland nach Ablauf von drei Monaten, auch wenn er oder sie nicht erwerbstätig ist, weiterhin über ein Aufenthaltsrecht zumindest zum Zweck der Arbeitsuche. Dieses besteht unabhängig vom Vorhandensein ausreichender Existenzmittel ohne zeitliche Begrenzung. Es kann jedoch im Einzelfall durch eine formale Verlustfeststellung durch die Ausländerbehörde beendet werden, wenn diese nach einem angemessenen Zeitraum durch einen förmlichen Verwaltungsakt konstatiert, dass nicht ernsthaft Arbeit gesucht oder keine realistischen Aussichten (mehr) bestehen, dass in absehbarer Zeit Arbeit gefunden wird.[1] Eine solche Verlustfeststellung (auch als „administrative Ausweisung“ bezeichnet) hat keine Wiedereinreisesperre zur Folge, sondern der oder die Betroffene genießt nach einer sofort möglichen Neueinreise erneut Freizügigkeit.

  2. Jede Person in Deutschland hat ein Menschenrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, das der Höhe nach den Regelbedarfen des SGB II entspricht. Dies ergibt sich aus den Art. 1 und 20 GG und wurde zuletzt durch das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung zur Verfassungswidrigkeit des AsylbLG erneut bekräftigt: „Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.“[2] Die Sozialgerichte sprechen in der letzten Zeit in Eilverfahren den klagenden Unionsbürger_innen in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle vorläufig Leistungen zu, was auch auf eine europarechtliche Debatte zurückzuführen ist, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll. Für arbeitsuchende Unionsbürger_innen ist die Tatsache der Inanspruchnahme von Leistungen nach dem SGB II allein kein hinreichender Grund für eine Verlustfeststellung oder administrative Ausweisung (siehe Punkt 1).

    So formuliert Erwägungsgrund Nr. 16 der Unionsbürgerrichtlinie der EU sehr eindeutig: „In keinem Fall sollte eine Ausweisungsmaßnahme gegen Arbeitnehmer, Selbstständige oder Arbeitssuchende in dem vom Gerichtshof definierten Sinne erlassen werden, außer aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit.“

Womit wir bei Innenminister Friedrichs Logik wären: Wenn arbeitsuchende und erwerbstätige Unionsbürger_innen wegen des Sozialleistungsbezugs nicht ausgewiesen werden dürfen, muss eben ein anderer Grund her. Und den hat er in einem weiteren Ausweisungstatbestand gefunden: Nach Art. 27 Abs. 1 Satz 1 der Unionsbürgerrichtlinie dürfen auch Unionsbürger_innen ausgewiesen werden, wenn dies „aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit“ geschieht. Aus Friedrichs Sicht hätte diese Form der „Sicherheitsausweisung“ den Vorzug, dass diese anders als die administrative Ausweisung mit einer mehrjährigen Wiedereinreisesperre versehen werden darf – genau das, was der Bundesinnenminister sich für mittellose Unionsbürger_innen aus Süd- und Osteuropa, die zudem oft nur eingeschränkt wirtschaftlich verwertbar sind, vorstellt.

Jetzt jedoch wird Friedrichs Argumentation dünn – um nicht zu sagen haarsträubend. Denn:

  1. Bereits im unmittelbar an den soeben zitierten Art. 27 Abs. 1 Satz 1 UnionsRL sich anschließenden Satz 2 heißt es sehr deutlich:

    „Diese Gründe dürfen nicht zu wirtschaftlichen Zwecken geltend gemacht werden.“

    Nur: Worum sonst als um wirtschaftliche Zwecke geht es wohl? Friedrich äußert dies auch klar, wenn er auf Kritik des Duisburger OB Sören Link („Mit Ausweisung und mit markigen Sprüchen à la Friedrich werden wir das Problem nicht los”) entgegnet: „Wenn der Duisburger Oberbürgermeister sagt, er will Geld haben, damit er alle auf sozusagen deutschem Sozialhilfeniveau in Duisburg verköstigen kann, dann kommen wir eben irgendwann mal an Grenzen.”[3]

  2. Der Begriff der „öffentlichen Sicherheit oder Ordnung“ hat rein gar nichts mit der Inanspruchnahme von Sozialleistungen zu tun. Die Gewährung von Grundsicherungsleistungen erfolgt vielmehr – wie oben dargestellt – aufgrund der staatlich geschuldeten, in der Verfassung und diversen Menschenrechtsvereinbarungen verankerten Pflicht, ein menschenwürdiges Existenzminimum sicher stellen zu müssen.

    In des Innenministers Logik wird das Einfordern dieses Menschenrechts somit gleichsam zu einem Akt schwerster Kriminalität umgedeutet.

    Denn genau hierfür ist die „Sicherheitsausweisung“ im Unionsrecht insbesondere vorgesehen: Zur ausländer_innenrechtlichen Sanktionierung schwerer Straftaten. In Art. 27 Abs. 2 UnionsRL heißt es dazu, das Fehlverhalten des oder der Unionsbürger_in müsse „eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig.“

    Abgesehen davon, dass das Ausfüllen eines Sozialleistungsantrags und die damit zu Papier gebrachte formale Dokumentation individueller wirtschaftlicher Armut bislang wohl kaum als Straftat einzustufen sein dürfte, wäre noch nicht einmal eine Verurteilung ein hinreichender Ausweisungsgrund: „Strafrechtliche Verurteilungen allein können ohne Weiteres diese Maßnahmen nicht begründen.“[4]

    Auch Friedrichs eigenes Haus, das Bundesministerium des Inneren, sieht nur sehr begrenzte Möglichkeiten einer Sicherheitsausweisung:

    „Der Begriff der öffentlichen Ordnung ist als Einschränkung des Prinzips der Freizügigkeit grundsätzlich eng auszulegen. (…) Es können vielmehr nur solche Verhaltensweisen den Verlust des Freizügigkeitsrechts rechtfertigen, die eine hinreichend schwerwiegende Gefährdung eines Grundinteresses der Gesellschaft darstellen. Eine Verletzung der ungeschriebenen Regeln des menschlichen Zusammenlebens, die nicht zugleich eine strafbare Handlung begründet, reicht hierfür grundsätzlich nicht aus. Es müssen zudem besondere Tatbestände der Gefährdung der inneren Sicherheit oder eine anderweitige schwere Beeinträchtigung gewichtiger Rechtsgüter vorliegen.“[5]

    Selbst im Falle einer strafrechtlichen Verurteilung dürfte nach Auffassung des Friederichschen Ministeriums eine Ausweisung nur dann erfolgen, wenn

    „die von dem Unionsbürger ausgehende Gefahr allgemein anerkannte und gesetzlich festgelegte Werte und Normen in einem Maße beeinträchtigt, das ein Einschreiten seitens des Staates erforderlich macht. Zu den Grundinteressen der Gesellschaft gehören beispielsweise die effektive Bekämpfung von Drogenhandel und des sexuellen Missbrauchs von Kindern.“[6]

Zusammenfassend lässt sich also feststellen: Das Ausfüllen eines Hartz-IV-Antrags durch eine_n Unionsbürger_in in Deutschland ist in Friedrichs Weltbild offensichtlich eine vergleichbar gefährliche Angelegenheit wie Drogenhandel oder Kindesmissbrauch – anders ließe sich sein Pseudo-Plan der Sicherheitsausweisungen nämlich nicht rechtfertigen.

Absurd? Ja sicher. Aber das spielt keine größere Rolle. Herr Friedrich tut nämlich einmal mehr genau das, was ein guter Innenminister eben zu tun hat: Die ganz große ausländerrechtliche Keule schwingen, zum interesselosen Wohlgefallen der Boulevardpresse und der Stammtische.

Dabei ist es völlig nebensächlich, ob der mit viel Getöse verkündete Plan rechtlich und tatsächlich umsetzbar ist, geschweige denn, ob er aus integrationspolitischer Sicht sinnvoll wäre.

Sinnvoll wäre allerdings insbesondere eines: Die Zuständigkeit für Aufenthaltsgesetz und Freizügigkeitsgesetz sollte dem Bundesinnenministerium umgehend entzogen und beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales oder bei einem neu zu schaffenden „Ressort für Teilhabe und Inklusion“ angesiedelt werden. Das, was manche Kommunen mit ihren Ausländer_innenämtern im Sozialdezernat statt im Dezernat für Recht und Ordnung bereits vollzogen haben, ist auf Bundesebene überfällig.

Ein solcher Paradigmenwechsel hätte für alle Beteiligten nur Vorteile: Der bundesdeutsche Plan der Etablierung einer „Willkommenskultur“ würde nicht weiterhin durch unüberlegtes Gepolter eines Ministers torpediert. Und der Bundesinnenminister müsste sich nicht mehr mit den Dingen beschäftigen, die ihn nicht interessieren: Integration, Teilhabe und die emanzipatorische Fortentwicklung der Europäischen Union.

 


[1] Art. 14 Abs. 4 UnionsRL

[2] Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 18.7.2012, 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11

[3]dtj-online.de/news/detail/2410/friedrich_armutseinwanderer_rausschmei%C3%9Fen%E2%80%9D_.html

[4] § 27 Abs. 2 Satz 2 UnionsRL

[5] BMI: AVwV FreizügG, Rd. Nr. 6.1.1.1

[6] BMI: AVwV FreizügG, Rd. Nr. 6.2.3

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