Drittstaatsangehörige aus der Ukraine

SGB-II-Anspruch auch mit Fiktionsbescheinigung

Es häufen sich die Meldungen, nach denen Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine mit Fiktionsbescheinigung, die nicht die ukrainische Staatsangehörigkeit haben, vom Jobcenter die Leistungen verweigert werden. Die Begründung ist in vielen Fällen, dass sie keine oder keine ausreichende Arbeitserlaubnis in ihrer Fiktionsbescheinigung hätten und deshalb gem. §8 Abs.2 SGB II ausländerrechtlich nicht erwerbsfähig seien. Besonders betroffen sind von der Leistungsverweigerung Drittstaatsangehörige, die aufgrund der Erlasslage etwa in NRW und Niedersachsen eine Fiktionsbescheinigung auf Grundlage des §16a oder b AufenthG erhalten haben, um Zeit zu bekommen, die Voraussetzungen für einen Studierendenaufenthalt oder einen Aufenthalt zum Zwecke der Ausbildung zu schaffen.

Die Leistungsverweigerungen durch das Jobcenter sind rechtswidrig. Es besteht auch in diesen Fällen ein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II. Im Folgenden sollen die unterschiedlichen Konstellationen dargestellt werden.

1. Fiktionsbescheinigung für den Ausbildungs- oder Studienaufenthalt
(§81 Abs.3 i.V.m. §16a bzw. b AufenthG) mit eingeschränkter Berechtigung zur Erwerbstätigkeit

Nach Erlassen u.a. aus Niedersachsen und NRW soll bei Drittstaatsangehörigen Studierenden aus der Ukraine, bei denen die Voraussetzungen für den vorübergehenden Schutz „offensichtlich nicht vorliegen“, in bestimmten Fällen der Antrag auf eine Aufenthaltserlaubnis nach §24 AufenthG in einen Antrag auf eine Aufenthaltserlaubnis für das Studium (§16b) oder die Berufsausbildung (§16a) umgedeutet und eine entsprechende Fiktionsbescheinigung für ein Jahr ausgestellt werden.
NRW, Erlass vom 17. Oktober 2022
Niedersachsen, Erlass vom 27. Dezember 2022
Diese Fiktionsbescheinigungen sind dann bereits mit den für die Aufenthaltserlaubnis nach §16a Abs.3 bzw. §16b Abs.3 AufenthG vorgesehenen Beschränkungen zum Arbeitsmarktzugang zu versehen. Für die Fiktionsbescheinigung auf §16b (Studium) bedeutet das die Berechtigung zu 120 ganzen oder 240 halben Tagen Beschäftigung pro Jahr plus studentische Nebenbeschäftigungen; für die Fiktionsbescheinigung auf §16a (qualifizierte Berufsausbildung) bedeutet das die Berechtigung zu zehn Stunden Nebenbeschäftigung pro Woche.
In einigen Kommunen (bekannt sind Fälle aus Bottrop, Hagen, Aachen und Düsseldorf) haben die Jobcenter nach Ausstellung einer solchen Fiktionsbescheinigung die Leistungen nach dem SGB II eingestellt, da damit keine ausländerrechtliche Erwerbsfähigkeit gegeben sei. Dies ist jedoch rechtswidrig.
Denn gem. §8 Abs.2 SGB II gelten Menschen ohne deutschen Pass nur dann als „erwerbsfähig“ im Sinne des SGB II,
„wenn ihnen die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt ist oder erlaubt werden könnte. Die rechtliche Möglichkeit, eine Beschäftigung vorbehaltlich einer Zustimmung nach §39 des Aufenthaltsgesetzes aufzunehmen, ist ausreichend.“
Diese ausländerrechtliche Erwerbsfähigkeit des §8 Abs.2 SGB II setzt keine Mindeststundenzahl voraus, sondern die rechtliche Möglichkeit irgendeiner Beschäftigung – unabhängig vom Umfang – ist ausreichend. Die Voraussetzung, mindestens drei Stunden am Tag erwerbstätig sein zu können, spielt hingegen nur bei der Frage gesundheitlichen Erwerbsfähigkeit gem. §8 Abs.1 SGB II eine Rolle.
Somit ist auch mit einem Arbeitsmarktzugang von 120 ganzen bzw. 240 halben Tagen oder von zehn Wochenstunden die ausländerrechtliche Erwerbsfähigkeit erfüllt und somit der Zugang zum SGB II gegeben. Es gibt dazu zumindest zwei eindeutige Landessozialgerichts-Entscheidungen, die dies bestätigen:
LSG Sachsen, Beschluss vom 31.1.2015, L 3 AS 148/15 B ER
LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 12.2.2010, L 1 SO 84/09 B ER
Beide bestätigen, dass die zeitlich und umfangmäßig beschränkte Zulassung zur Erwerbstätigkeit ausreicht und es dann auch nicht auf die drei Stunden am Tag ankommt:
„Die Aufenthaltserlaubnis nach §16 AufenthG und die Erlaubnis zur Ausübung einer Beschäftigung, die insgesamt 120 Tage oder 240 halbe Tage im Jahr nicht überschreitet, sowie zur Ausübung studentischer Nebentätigkeit (vgl. §16 Abs.3 AufenthG) genügt den Anforderungen zur rechtlichen Erwerbsfähigkeit im Sinne des §8 Abs.2 SGB II. (LSG Sachsen, L 3 AS 148/15 B ER)
„Die Berechtigung eines Ausländers zur Ausübung einer Beschäftigung, die insgesamt 90 Tage oder 180 halbe Tage im Jahr nicht überschreitet sowie zur Ausübung studentischer Nebentätigkeiten (§16 Abs.3 Satz 1 AufenthG) genügt den Anforderungen zur rechtlichen Erwerbsfähigkeit im Sinne des §8 Abs.2 SGB II. (…) Dies ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte des §8 SGB II. Laut dem ursprünglichen Gesetzentwurf sollten Ausländer nur erwerbstätig sein, „wenn ihnen die Aufnahme einer Beschäftigung ohne Beschränkung erlaubt ist oder durch die Bundesagentur erlaubt werden könnte“ (BT-Drucks. 15/1516, S.11). Der Passus „ohne Beschränkung“ ist im weiteren Gesetzgebungsverfahren entfallen (BT-Drucks. 17/1728, S.172). Dies lässt erkennen, dass es für das rechtliche Dürfen nicht (mehr) darauf ankommen soll, ob die Aufnahme einer Beschäftigung mit oder ohne Beschränkung erlaubt ist (Blüggel in Eicher/Spellbrink, SGB II, §8 Rn.58).“ (LSG Rheinland-Pfalz, L 1 SO 84/09 B ER)
Im Ergebnis heißt das: Auch mit einer Fiktionsbescheinigung auf §16a/b AufenthG besteht weiterhin Zugang zum SGB II. Die Leistungseinstellungen des Jobcenters wegen der vermeintlich fehlenden ausländerrechtlichen Erwerbsfähigkeit sind rechtswidrig.

2. Fiktionsbescheinigung für nach Antrag auf vorübergehenden Schutz
(§81 Abs.3 i.V.m. §24 AufenthG) ohne Arbeitserlaubnis

Gelegentlich kommt es vor, dass Ausländerbehörden drittstaatsangehörigen Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine eine Fiktionsbescheinigung auf §24 AufenthG ohne Arbeitserlaubnis ausstellen. Dass nach einem Antrag auf vorübergehenden Schutz unabhängig von dessen Erfolgsaussicht eine Fiktionsbescheinigung ausgestellt werden muss, hat der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg bekräftigt:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 26.10.2022 - 11 S 1467/22, S.19 und 20
Entgegen der Rechtsauffassung des Bundesinnenministeriums (Schreiben vom 5. September 2022, S.17) erteilen manche Ausländerbehörden jedoch mit der Fiktionsbescheinigung nicht immer auch eine Arbeitserlaubnis, so dass die Erwerbstätigkeit mit der Fiktionsbescheinigung dann nicht erlaubt ist.
Dennoch besteht auch in diesen Fällen ein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II. Denn eine Sonderregelung in §74 Abs.1 SGB II sieht vor, dass bei einer Fiktionsbescheinigung aufgrund eines Antrags auf den vorübergehenden Schutz gem. §24 AufenthG die ausländerrechtliche Erwerbsfähigkeit keine Voraussetzung für den Leistungsanspruch ist:
„Abweichend von §7 Absatz 1 Satz 2 Nummer 1 und 2 erhalten Leistungen nach diesem Buch auch Personen, die gemäß §49 des Aufenthaltsgesetzes erkennungsdienstlich behandelt worden sind, eine Aufenthaltserlaubnis nach §24 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes beantragt haben und denen eine entsprechende Fiktionsbescheinigung nach §81 Absatz 5 in Verbindung mit Absatz 3 des Aufenthaltsgesetzes ausgestellt worden ist. §7 Absatz 1 Satz 1 Nummer 4 und §8 Absatz 2 sind nicht anzuwenden.
Auch in diesem Fall ist also die Ablehnung durch das Jobcenter rechtswidrig.
Der Leistungsanspruch kann auch der Fachlichen Weisung der BA vom 23. Mai 2022 zur „Bearbeitung von Fällen mit Aufenthaltstitel nach §24 AufenthG oder entsprechender Fiktionsbescheinigung“ entnommen werden (S.15). Die BA weist in der Weisung zudem auf die Tatsache hin, dass Personen auch dann leistungsberechtigt sind, wenn sie ggf. im weiteren Verfahren keine Aufenthaltserlaubnis nach §24 AufenthG bekommen. Die Leistungsgewährung darf also nicht von den Erfolgsaussichten auf eine Aufenthaltserlaubnis nach §24 AufenthG abhängig gemacht werden.

3. Vorübergehender Schutz ist beantragt, aber keine Fiktionsbescheinigung ausgestellt
Und schließlich gibt es Fälle, in denen nach einem Antrag auf den vorübergehenden Schutz gem. §24 AufenthG (rechtswidrig) gar keine Fiktionsbescheinigung ausgestellt wird. In diesem Fall ist ebenfalls keine ausländerrechtliche Erwerbsfähigkeit gegeben, obwohl aufgrund des Antrags auf eine Aufenthaltserlaubnis nach §24 AufenthG der rechtmäßige Aufenthalt fortbesteht. Zuständig für die Sicherung des Lebensunterhalts ist dann das Sozialamt, es besteht Anspruch auf Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII.
LSG Hessen, Beschluss vom 29. Juli 2022, L 4 SO 124/22 B ER

Wichtig für alle Konstellationen ist:
Es ist rechtlich unzulässig, Menschen trotz Hilfebedürftigkeit von jeglichen existenzsichernden Sozialleistungen auszuschließen. Eines der Leistungssysteme (SGB II, SGB XII oder AsylbLG) greift grundsätzlich immer. Es ist in erster Linie Aufgabe der Behörden und nicht der Betroffenen, das zuständige Leistungssystem herauszufinden.
Es gehört nämlich zu den Prinzipien des Sozialrechts, dass ein Antrag auf eine Sozialleistung auch dann als gestellt gilt, wenn er bei der unzuständigen Behörde eingegangen ist. Diese muss ihn dann von sich aus an die zuständige Behörde weiterleiten (§16 SGB I). Die zuerst angegangene Behörde muss in Vorleistung gehen, bis geklärt ist, welcher Träger tatsächlich zuständig ist und dies beantragt wurde (§43 SGB I). Bei unklarer Zuständigkeit empfiehlt es sich unabhängig davon, bei allen denkbaren Trägern Leistungen zu beantragen und dies gegenüber den jeweiligen Trägern auch transparent zu machen.
Wenn das Jobcenter bzw. Sozialamt die Leistungen einstellt, sollte dagegen Widerspruch eingelegt werden. Zusätzlich sollte ein Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz beim Sozialgericht (Eilantrag nach §86b SGG) gestellt werden, damit das Sozialgericht das Jobcenter verpflichtet, vorläufig – also bis zur Entscheidung über den Widerspruch oder die Klage – weiterhin Leistungen zu erbringen. Dabei sollten sowohl die inhaltlichen Gründe vorgetragen werden, warum man sich im Recht fühlt (siehe oben), als auch dargelegt werden, warum es aufgrund einer Notlage dringend ist.
Parallel sollte versucht werden bei der zuständigen Ausländerbehörde die Ausstellung einer Fiktionsbescheinigung zu bewirken. Denn die Nicht-Ausstellung einer Fiktionsbescheinigung ist rechtswidrig. Bei Antragstellung auf eine Aufenthaltserlaubnis während eines rechtmäßigen Aufenthalts gilt der Aufenthalt bis zur Entscheidung über den Aufenthaltstitel als erlaubt, und es besteht nach §81 Abs.5 AufenthG Anspruch auf Ausstellung einer entsprechenden Fiktionsbescheinigung. Falls einzelne Ausländerbehörden keine Fiktionsbescheinigungen erteilen, empfiehlt es sich, diese mit kurzer Fristsetzung zur Ausstellung einer Fiktionsbescheinigung aufzufordern und falls die Frist verstreichen sollte, einen Eilantrag nach §123 VwGO beim zuständigen Verwaltungsgericht auf Erstellung und Aushändigung einer Fiktionsbescheinigung zu stellen.

Diesen Text als pdf gibt es hier

Kontakt

GGUA Flüchtlingshilfe
Hafenstraße 3–5 (2. Etage)
48153 Münster

Email: info(at)ggua.de
Telefon: 0251 / 14486-0
Fax:       0251 / 14486-10

Unsere Öffnungszeiten:
Montag bis Freitag
9–12:30 Uhr
Montag und Donnerstag
14–18 Uhr