Es kommt eher selten vor, dass Bundesgerichte sich für die Urteilsfindung in die metaphysischen Untiefen des philosophischen Voluntarismus begeben. Nach dem Bundesverwaltungsgericht im Jahr 2009 hat jedoch nun am 30. Oktober auch das Bundessozialgericht einen solchen Ausflug unternommen.
Im Kern ging es in beiden Verfahren um folgende Frage: Darf eine deutsche Behörde von eine_r ausreisepflichtigen Ausländer_in verlangen, eine dem inneren Willen widersprechende Erklärung – also eine Lüge – zu unterschreiben, damit eine Abschiebung durchgeführt werden kann? Und weiter noch: Darf eine deutsche Behörde von eine_r ausreisepflichtigen Ausländer_in einen bestimmten inneren Willen erwarten und gegebenenfalls gar sanktionieren, wenn letzterer nicht mit dem inneren Willen des Gesetzgebers übereinstimmt?
Ja sicher, sagte das Bundesverwaltungsgericht ( AZ: 1 C 19.08) am 10. November 2009: Einem iranischen Staatsbürger sei zuzumuten, gegenüber seiner Botschaft zu erklären, er wolle freiwillig in den Iran zurückkehren – obwohl er genau dies jedoch ausdrücklich nicht wollte. In der Diktion des Bundesverwaltungsgerichts heißt das, es sei einem
„ausreisepflichtigen Ausländer rechtlich grundsätzlich nicht unzumutbar, zur Ausreise nicht nur willens und bereit zu sein, sondern diese Bereitschaft auch zu bekunden und eine 'Freiwilligkeitserklärung' in der hier gegebenen Form abzugeben. Ein entgegenstehender innerer Wille des Ausländers, der die Erklärung mangels Bildung eines entsprechenden Willens als unwahr empfindet, ist aufenthaltsrechtlich regelmäßig unbeachtlich.“
Außerdem müsse der betreffende ausreisepflichtige Ausländer in einem solchen Fall mal sehr gut überlegen, was er wirklich wollen will. Schließlich unterliegt auch der innere Wille den gesetzlichen Vorgaben des Gesetzes: „Die gesetzliche Ausreisepflicht schließt die Obliegenheit für den Ausländer ein, sich auf seine Ausreise einzustellen, zur Ausreise bereit zu sein und einen dahingehenden Willen zu bilden.“ Wenn der innere Wille dem Gesetz nicht folge, sei das Rechtsmissbrauch, und somit könne keine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden.
„Die Gedanken sind frei“, stellte demgegenüber der zuständige Richter am Bundessozialgericht am vergangenen Mittwoch (30. Oktober 2013) in einer Entscheidung (AZ: B 7 AY 7/12 R) zur (Nicht-)Rechtmäßigkeit von Leistungskürzungen nach § 1a AsylbLG fest. „Andernfalls hätten wir ein totalitäres System."
Auch in diesem Fall ging es um die Abgabe einer Freiwilligkeitserklärung. „Ich bin malischer Staatsangehöriger, und ich möchte freiwillig in mein Heimatland zurückkehren. Ich versichere hiermit, nicht nach Deutschland zurückzukehren, es sei denn unter den Bedingungen der deutschen Einwanderungsgesetze“, sollte die Klägerin unterschreiben. Da sie sich weigerte, verhängte das Sozialamt eine Leistungskürzung nach § 1a AsylbLG mit der Begründung, sie verhindere somit rechtswidrig ihre eigene Abschiebung. Das Bundessozialgericht stellte nun fest, dass die Leistungskürzung selbst rechtswidrig ist: Aus verfassungsrechtlichen Gründen könne ihr nicht die fehlerhafte Erklärung abverlangt werden. Und damit habe sie auch nicht nach § 1a AsylbLG aus von ihr zu vertretenden Gründen die Abschiebung verhindert. Eine solche Forderung verstoße nämlich gegen die Gedankenfreiheit und damit gegen einen "ehernen Grundsatz unseres Verfassungsrechts".
Das Bundessozialgericht ging sogar noch weiter: Selbst eine „rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer“ sei mit der Weigerung nicht gegeben, und somit müsse sogar die analoge Leistung nach § 2 AsylbLG nach einer vierjährigen Vorbezugszeit der Grundleistungen nach § 3 AsylbLG gewährt werden.
Im Ergebnis heißt dies wohl erfreulicherweise: Das Sozialamt muss nicht nur den Regelbedarf für das soziokulturelle Existenzminimum nachzahlen, sondern zusätzlich die Differenz zu den Analogleistungen in Höhe des SGB XII. Und diese dürften gemäß § 291 BGB zudem mit vier Prozent verzinst werden müssen – darauf haben sich zumindest die Prozessparteien in drei anderen Klageverfahren vor dem Bundessozialgericht am gleichen Tag geeinigt (B 7 AY 8/12 R; B 7 AY 1/13 R; B 7 AY 2/13 R; Terminbericht hier).
Allerdings ist die Genugtuung getrübt: Die eigentlich relevante Grundsatzfrage, ob nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum AsylbLG vom 18. Juli 2013 eine Leistungskürzung unterhalb des physischen und soziokulturellen Existenzminimums verfassungsrechtlich überhaupt noch möglich ist, hat das Bundessozialgericht leider unbeantwortet gelassen.
Die bisherigen Eilentscheidungen der Landessozialgerichte zu dieser Frage sind widersprüchlich: Zugunsten der Kläger_innen haben u.a. entschieden:
- LSG Bayern, 24. Januar 2013 - L 8 AY 4/12 B ER
- LSG Berlin-Brandenburg, 6. Februar 2013 – L 15 AY 2/13 B ER
- LSG Rheinland Pfalz, 27. März 2013 - L 3 AY 2/13 BE R
- LSG NRW, 24. April 2013 - L 20 AY 153/12 B ER
Die Bundesländer Schleswig-Holstein, Bayern und Rheinland-Pfalz haben daraufhin per Erlass erklärt, die Leistungskürzung nach § 1a AsylbLG nicht mehr anzuwenden.
Gegen die Kläger_innen haben u.a. entschieden:
- LSG Thüringen, 17. Januar 2013 - L 8 AY 1801/12 B ER
- LSG Niedersachsen-Bremen, 20. März 2013 - L 8 AY 59/12 B ER
- LSG Berlin-Brandenburg, 23. Juli 2013 - L 23 AY 10/13 B ER
- LSG Hamburg, 19. August 2013 - L 4 AY 5/13 B ER
- LSG Sachsen-Anhalt, 2. September 2013 - L 8 AY 5/13 B ER
Das letzte Wort ist also ganz offenkundig zu dieser Frage noch nicht gesprochen. Allerdings bleibt schleierhaft, wie eine Leistungskürzung mit den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in Einklang gebracht werden soll. Die höchsten Richter_innen hatten sehr eindeutig folgendes festgestellt:
„Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG verlangt, dass das Existenzminimum in jedem Fall und zu jeder Zeit sichergestellt sein muss. (…). Ausländische Staatsangehörige verlieren den Geltungsanspruch als soziale Individuen nicht dadurch, dass sie ihre Heimat verlassen und sich in der Bundesrepublik Deutschland nicht auf Dauer aufhalten (…) Die einheitlich zu verstehende menschenwürdige Existenz muss daher ab Beginn des Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland realisiert werden.(...) Migrationspolitische Erwägungen, die Leistungen an Asylbewerber und Flüchtlinge niedrig zu halten, um Anreize für Wanderungsbewegungen durch ein im internationalen Vergleich eventuell hohes Leistungsniveau zu vermeiden, können von vornherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen.“
Eine Leistungskürzung auf das physische Existenzminimum würde also ganz offensichtlich weder mit dem inneren Willen der Verfassungsrichter_innen noch mit dem Geist des Grundgesetzes übereinstimmen.
Womit wir wieder, wie am Anfang, beim inneren Willen wären. Vielleicht sollten die Anti-Voluntarist_innen am Bundesverwaltungsgerichts mal ihren Schopenhauer herauskramen:
„Die Willensfreiheit bedeutet, genau betrachtet, eine Existentia ohne Essentia, welches heißt, dass etwas sei und dabei doch nichts sei, welches wiederum heißt, nicht sei also ein Widerspruch ist.“ (aus:Freiheit des Willens, Der Wille vor dem Bewußtseyn anderer Dinge)
Alles klar? Eben!