Anspruch auf SGB II in den ersten drei Monaten für Familienangehörige mit Schengenvisum

Urteil des Bundessozialgerichts

Das Bundessozialgericht hat am Mittwoch klargestellt, dass nicht-deutsche Staatsangehörige auch in den ersten drei Monaten nach Einreise einen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II haben können (BSG, Urteil vom 17. Juli 2024, B 7 AS 3/23 R). Dies gilt auch, wenn sie nur ein Schengenvisum besitzen und daher nicht erwerbfähig sind (weil sie aus rechtlichen Gründen keine Arbeitserlaubnis bekommen können). Voraussetzung ist dann aber, dass ein*e erwerbsfähige*r Familienangehörige*r sie „als deren Kopf“ in ihre Bedarfsgemeinschaft hineinzieht. In diesem Fall ist der Leistungsausschluss in den ersten drei Monaten des Aufenthalts (§7 Abs.1 S.2 Nr.1 SGB II) nicht anwendbar. Ein Leistungsausschluss bestünde vielmehr nur, wenn auch die stammberechtigte Person selbst von Leistungen nach SGB II ausgeschlossen wäre. Die Urteilsbegründung liegt noch nicht vor, sondern nur ein kurzer Terminbericht. Dennoch ist dies von Bedeutung, da in der Praxis immer wieder einem Teil von Familien in den ersten drei Monaten des Aufenthalts zu Unrecht Leistungen durch Jobcenter verweigert werden.

Der Fall:
Ein tunesischer Staatsangehöriger lebt mit Niederlassungserlaubnis in Deutschland. Er ist nicht erwerbstätig und erhält Leistungen nach dem SGB II. Seine Frau und seine Kinder reisen mit einem Schengenvisum ein und leben mit ihm zusammen. Das Jobcenter lehnt zunächst Leistungen für Frau und Kinder ab, weil sie in den ersten drei Monaten ausgeschlossen seien. Erst als die Ausländerbehörde wegen der bevorstehenden Geburt eines weiteren Kindes (das die deutsche Staatsangehörigkeit haben wird) eine Fiktionsbescheinigung (Erlaubnisfiktion nach §81 Abs.3 S.1 AufenthG) ausgestellt hat, bewilligt das Jobcenter Leistungen. Das Bundessozialgericht hat das Jobcenter nun verurteilt, aufgrund eines Überprüfungsantrags nach §44 SGB X auch für die ersten Monate ab der Einreise Leistungen zu zahlen.

Die Argumente:
Soweit dies aus dem kurzen Terminbericht zu entnehmen ist, begründet das Bundessozialgericht den Anspruch mit folgenden Argumenten:
– Es besteht ein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II, obwohl die Frau und die Kinder rechtlich nicht erwerbsfähig sind (§8 Abs.2 SGB II). Mit einem Schengenvisum bzw. einer Erlaubnisfiktion kann ihnen die Beschäftigung zwar nicht erlaubt werden. Allerdings werden sie durch den (rechtlich und gesundheitlich) erwerbsfähigen Ehemann und Vater in die Bedarfsgemeinschaft hineingezogen, so dass sie dennoch einen Anspruch auf Leistungen nach §7 Abs.2 SGB II für nicht erwerbsfähige Angehörige der Bedarfsgemeinschaft haben (das frühere Sozialgeld).
– Ein Schengenvisum begründet einen rechtmäßigen Aufenthalt, mit dem dem Grunde nach kein Ausschluss vom SGB II besteht. Zusätzlich wird jedoch ein „gewöhnlicher Aufenthalt“ vorausgesetzt, der bei Besuchsaufenthalten normalerweise nicht gegeben ist. Anders sieht es in diesem konkreten Fall aus, da die familiäre Lebensgemeinschaft von Anfang an auch einen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne eines zukunftsoffenen Verbleibs begründete (§30 SGB I). Dasselbe gilt für den Aufenthalt mit einer Erlaubnisfiktion. Der rechtliche Status mit Schengenvisum oder Erlaubnisfiktion sagt also nur wenig über die Verbleibsperspektiven und den gewöhnlichen Aufenthalt aus. Dies müssen vielmehr aufgrund der tatsächlichen Verhältnisse beurteilt werden.
– Der Leistungsausschluss in den ersten drei Monaten gem. §7 Abs.1 S.2 Nr.1 SGB II gilt nicht für Familienangehörige von Personen, die selbst nicht vom SGB II ausgeschlossen sind. Vielmehr kann der Leistungsausschluss allenfalls dann greifen, wenn die „stammberechtigte Person“ selbst ebenfalls einem Leistungsausschluss unterliegt (etwa, weil sie selbst nicht erwerbsfähig ist oder noch keine drei Monate in Deutschland lebt).

Der Leistungsausschluss in den ersten drei Monaten ist ein Thema, das in der Beratung immer wieder zu Schwierigkeiten führt. Ursprünglich war er nur für EU-Bürger*innen eingeführt worden, die in den ersten drei Monaten über ein voraussetzungsloses Freizügigkeitsrecht verfügen. Die Jobcenter haben diesen Ausschluss aber dann auch in vielen anderen Konstellationen des Familiennachzugs angewandt. Erst die Rechtsprechung der Sozialgerichte hat diese restriktive Praxis Schritt für Schritt wieder korrigiert. So ist schon länger klar, dass kein Ausschluss in den ersten drei Monaten besteht für
– Familienangehörige von deutschen Staatsangehörigen (BSG, Urteil vom 30. Januar 2013; B 4 AS 37/12 R)
– Personen mit einem humanitären Aufenthaltstitel (Aufenthaltstitel nach Kapitel 2 Abschnitt 5; §§22 bis 26 AufenthG) und ihre Familienangehörigen (Fachliche Weisung der BA zu §7 SGB II, Nr. 1.4.9.4)
– Unionsbürger*innen und ihre Familienangehörigen, wenn die Unionsbürger*in erwerbstätig ist.
Das BSG hat nun klargestellt, dass auch in anderen Fällen eines Aufenthalts von Familienangehörigen von Drittstaatsangehörigen der Leistungsausschluss in den ersten drei Monaten oft unanwendbar bleiben muss und daher ein Leistungsanspruch besteht. Die Praxis, mit Erlaubnisfiktion oder fehlender Beschäftigungserlaubnis per se die Leistungen in den ersten drei Monaten abzulehnen ist somit nicht haltbar.

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