Anspruch auf AsylbLG nach visumfreier Einreise auch ohne Duldung, Aufenthaltsgestattung oder Aufenthaltserlaubnis (wenn von Anfang an längerfristiger Aufenthalt angestrebt wird)

Beschluss des Landessozialgerichts Niedersachsen – kommentiert von Claudius Voigt

Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen hat in einem ganz interessanten Beschluss (25. Mai 2023; L 8 AY 14/23 B ER) klargestellt, dass für Personen, die visumfrei eingereist sind, auch ohne Duldung, Aufenthaltserlaubnis oder Asylantrag ein Anspruch auf Leistungen nach AsylbLG bestehen kann. Diese Konstellationen kommen in der Beratung immer wieder vor, so dass dies nicht unwichtig ist. Daher möchte ich den Fall rechtlich mal detailliert aufdröseln:

Zum konkreten Fall:
Eine serbische Frau reist visumfrei nach Deutschland ein, um bei ihrem Bruder und ihrer Schwägerin zu leben. (Serbische Staatsangehörige dürfen unter bestimmten Voraussetzungen visumfrei einreisen.) Die Frau leidet unter paranoider Schizophrenie und wurde bislang von ihren Eltern in Serbien betreut, die nun verstorben sind. Sie erhält in Serbien eine Waisenrente von knapp 90 Euro.
Bei der ABH beantragt sie (noch während der ersten drei Monate) eine Aufenthaltserlaubnis und hilfsweise eine Duldung wegen der Betreuungsbedürftigkeit und Reiseunfähigkeit. Darüber ist noch nicht entschieden.
Die Schwägerin wendet sich (nach mehr als drei Monaten) an das Sozialamt und bittet für sie um Ausstellung eines Krankenscheins und um „soziale Leistungen“, da die Frau völlig mittellos ist.
Das Sozialamt teilt in einer Mail mit, dass die Frau nur als Touristin hier sei und deshalb keinen Anspruch auf Leistungen nach SGB XII habe. Außerdem habe sie keine Duldung, daher sei AsylbLG auch nicht möglich.
Die ABH erteilt bislang weder eine Duldung, noch eine Fiktionsbescheinigung, noch eine Aufenthaltserlaubnis. Die Frau hängt also im berüchtigten behördlichen Niemandsland fest.
Die Frau legt Widerspruch gegen die negative Mitteilung des Sozialamts ein und stellt wegen der Nicht-Zahlung einen Eilantrag beim Sozialgericht. Das Sozialgericht lehnt ab. Es wird Beschwerde beim Landessozialgericht eingelegt.

Das Landessozialgericht hat nun entschieden, dass sie doch einen Anspruch auf Leistungen nach dem AsylbLG hat. Und zwar aus folgenden Gründen:
– Sie ist von vornherein „ohne Rückkehrabsicht“ visumfrei eingereist. Schon bei ihrer Einreise war klar, dass sie dauerhaft in Deutschland bleiben will und muss, weil sie allein in Serbien nicht zurechtkommt.
– Aus dieser dauerhaften Einreiseabsicht ergibt sich, dass ihre Einreise von Anfang an unerlaubt war. Denn die visumfreie Einreise ist (auch aus Serbien) nur rechtmäßig, wenn man tatsächlich nur für einen (bis zu 90-tägigen) Kurzaufenthalt kommen will. Wenn hingegen von vornherein ein Daueraufenthalt geplant ist, ist die visumfreie Einreise nicht rechtmäßig. Vielmehr müsste man dann für die Einreise und den Aufenthalt einen Aufenthaltstitel besitzen (also ein nationales Visum).
– Da sie nicht im Besitz dieses erforderlichen Aufenthaltstitels ist, ist sie ausreisepflichtig (§50 Abs.1 AufenthG). Die Ausreisepflicht ist gem. §58 Abs.2 S.1 AufenthG wegen der unerlaubten Einreise kraft Gesetzes auch vollziehbar.
– Sie hat trotz ihres Antrags auf eine Aufenthaltserlaubnis, über den noch nicht entschieden ist, auch keinen Anspruch auf eine Fiktionsbescheinigung gem. §81 Abs.3 AufenthG. Denn diese Fiktionswirkung würde nur entstehen, wenn sie aus einem rechtmäßigen Aufenthalt heraus die Aufenthaltserlaubnis beantragt hätte. Der Aufenthalt war aber von Anfang an nicht rechtmäßig (siehe oben).
– Deshalb ist sie gem. §1 Abs.1 Nr.5 AsylbLG als „vollziehbar ausreisepflichtige“ Person leistungsberechtigt nach dem AsylbLG. Dies gilt auch und gerade dann, wenn sie keine Duldung besitzt (mit einer Duldung wäre sie nämlich nach §1 Abs.1 Nr.4 AsylbLG leistungsberechtigt).
– Für den Anspruch auf Leistungen nach AsylbLG muss kein formaler Antrag gestellt werden. Es reicht, wenn dem Sozialamt „bekannt“ ist, dass jemand Sozialleistungen braucht (§6b AsylbLG i.V.m. §18 SGB XII). Auch eine formlose E-Mail der Schwägerin, mit der allgemein „soziale Leistungen“ erbeten werden, reicht dafür aus.

Mit dem Beschluss des LSG wird deutlich gemacht, dass selbst im diffusen aufenthaltsrechtlichen Niemandsland immer ein Anspruch auf Leistungen besteht – entweder nach AsylbLG oder nach SGB XII oder nach SGB II. Dieser Anspruch darf auch nicht durch das faktische Hinhalten durch die ABH oder das Sozialamt ausgehebelt werden.

Interessant ist aber auch noch folgendes: Was wäre, wenn die Frau tatsächlich geplant hätte, für einen Kurzaufenthalt visumfrei einzureisen und sich währenddessen – zum Beispiel aufgrund eines Unfalls – ungeplant eine andere Situation ergeben hätte? Wenn sie sich also überraschend dann doch zu einem längeren Aufenthalt hätte entscheiden müssen? Dann hätten wir sozial- und aufenthaltsrechtlich eine ganz andere Situation:
– Die Einreise wäre rechtmäßig gewesen, der dreimonatige visumfreie Aufenthalt auch.
– Durch den Antrag auf eine Aufenthaltserlaubnis während der ersten drei Monate wäre eine Fiktionswirkung entstanden (§81 Abs.3 AufenthG). Die ABH hätte eine Fiktionsbescheinigung ausstellen müssen (§81 Abs.5 AufenthG).
– Es hätte ein Anspruch auf Leistungen zum Lebensunterhalt nach SGB XII und nicht nach AsylbLG bestanden – auch wenn die Fiktionsbescheinigung rechtswidrig nicht ausgestellt worden sein sollte. Denn die Fiktionsbescheinigung hat nur eine deklaratorische, aber keine konstitutive Wirkung. Ein Anspruch auf Leistungen nach SGB II hätte demgegenüber nicht bestanden, weil keine ausländerrechtliche Erwerbsfähigkeit gegeben gewesen wäre (ihr kann keine Arbeitserlaubnis erteilt werden).
– In den ersten drei Monaten hätte ein Anspruch zumindest auf Überbrückungsleistungen nach §23 Abs.3 S.3ff SGB XII bestanden, die aufgrund einer besonderen Härte in voller Höhe und auch über einen Monat hinaus hätten erbracht werden müssen.

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