Am 15.8. hat das MKJFGFI einen neuen Erlass zum Chancenaufenthaltsrecht veröffentlicht. Bereits im April hatte das BMI seine Anwendungshinweise zum §104c AufenthG aktualisiert. Durch die Veröffentlichung des Erlasses aus NRW sind die aktualisierten Anwendungshinweise des BMI mit NRW-spezifischen Ergänzungen und an einigen Stellen auch Abweichungen (rot markiert) nun für verbindlich anwendbar erklärt worden. Der „alte“ NRW-Erlass vom 8.2.2023 wird aufgehoben, sofern die Regelungen dem neuen Erlass widersprechen (dies betrifft vor allem die Betrachtung einer Grenzübertrittsbescheinigung – GÜB – als faktische Duldung). Der Erlass enthält einige (z.T. hilfreiche) Klarstellungen und Hinweise. An einigen Stellen wären weitere konkretere Ausführungen wünschenswert gewesen.
Hier eine Zusammenfassung der Neuerungen aus dem NRW-Erlass:
– Klarstellung, die AE nach §104c AufenthG nur einmalig erteilt werden kann, da es sich um eine Sonderregelung handelt und eine erneute Erteilung der Intention des Gesetzes widersprechen würde (1.1e)
– Während eines laufenden Asylfolgeantrags bzw. einem isoliertem Wiederaufgreifensantrag kann die AE nach §104c AufenthG (trotz Duldungsbesitz in dem Zeitraum) nicht erteilt werden – das BAMF-Verfahren muss zunächst abgewartet werden (1.2e)
– Zum Erfordernis Geduldeter Aufenthalt (1.3a–c): Geduldet sind Personen, denen entweder eine rechtswirksame Duldung erteilt worden ist oder wenn ein Rechtsanspruch auf Erteilung einer Duldung vorliegt. Die Auffassung aus dem vorherigen NRW-Erlass, dass auch Menschen im Besitz einer GÜB als faktisch geduldet anzusehen sind, ist angepasst worden. Bereits zwei Tage nach Veröffentlichung des ersten Erlasses war ein Beschluss des OVG NRW ergangen (10.2.2023 – 18 B 103/23), das abweichend von der Auffassung des Erlasses den Besitz einer GÜB als nicht ausreichend für das Erfordernis des Status „geduldet“ angesehen hat, da es eine „faktische Duldung“ im AufenthG nicht gäbe. Der neue Erlass weist darauf hin, dass für die Frage ob ein Duldungsanspruch vorliegt, insbesondere der Tatbestand der tatsächlichen Unmöglichkeit der Abschiebung geprüft werden soll. Es wird das Fehlen von Transportmöglichkeiten als Beispiel benannt. Hier wäre eine weitere Erläuterung wünschenswert gewesen. Ein Rechtsanspruch auf eine Duldung wegen tatsächlicher Unmöglichkeit der Abschiebung dürfte ebenfalls vorliegen, wenn eine Abschiebung zwar theoretisch möglich ist, aber sich zum Beispiel aus organisatorischen Gründen nicht zeitnah (innerhalb weniger Monate) umsetzen lässt. Durch die Formulierung im Erlass ist zu befürchten, dass einige ABHen nur in den Fällen eine tatsächliche Unmöglichkeit sehen, wenn es z.B. keine Flugverbindungen gibt, nicht aber schon wenn es um eine zeitnahe Umsetzung geht. Der Erlass verweist im Anschluss darauf, dass ABHen in Fällen, in denen die Abschiebung konkret geplant und alsbald bevorsteht, die Möglichkeit haben die Duldungsbescheinigung mit einer auflösenden Bedingung zu versehen (z.B.: „erlischt mit Bekanntgabe des Abschiebetermins“) und somit durch die Erteilung einer rechtswirksamen Duldung das Erfordernis des geduldeten Aufenthalts unstreitig erfüllt ist.
– Klarstellung, dass eine Erteilung der AE nach §104c AufenthG an Minderjährige losgelöst vom Erhalt der AE der Eltern möglich ist (1.5b)
– Zum Erfordernis des Bekenntnisses zur freiheitlich demokratischen Grundordnung (fdGO) (1.6b+c): Klarstellung, dass eine standardisierte Nutzung eines formalisierten Tests zur Überprüfung von Kenntnissen der freiheitlich demokratischen Grundordnung nicht zulässig ist! (Wie in einigen ABHen z.T. per Multiple-Choice-Test durchgeführt). Der Nachweis des Bekenntnisses zur fdGO dürfte regelmäßig durch eine schriftliche Erklärung erfolgen, weitere Anforderungen an den Nachweis bestehen regelmäßig nicht. Nur bei begründeten Zweifeln an der Belastbarkeit des Bekenntnisses auf Basis konkreter Tatsachen kann eine Befragung zur Abklärung, ob der Sinngehalt des Bekenntnisses zur fdGO erfasst wurde und das Bekenntnis entsprechend getragen ist, sinnvoll sein. Die Kenntnis formaler Begriffe ist nicht entscheidend.
– Klarstellung, dass die AE nach §104c AufenthG mit (formloser) Bekanntgabe wirksam wird, die in der Regel der Termin zur persönlichen Vorsprache der Person in der ABH zur Beantragung des eAT darstellt. Das Datum der Bekanntgabe der ABH-Entscheidung ist das Ausstellungsdatum und der Beginn des 18-Monats-Zeitraums. Bis zur anschließenden Aushändigung des eAT ist ein Behördenschreiben auszustellen, dass die AE nach §104c AufenthG erteilt worden ist und die Herstellung des eAT in Auftrag gegeben wurde, damit die aus der Erteilung des §104c AufenthG resultierenden Rechte bereits in Anspruch genommen werden können. (1.10a)
– §104c Abs.3 S.1 AufenthG räumt im Ermessen ein Absehen von der Erteilungssperre des §10 Abs.3 S.2 AufenthG für die Fälle der Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet nach §30 Abs.1 Nr.3–7 AsylG ein. Der Erlass stellt klar, dass das Absehensermessen regelmäßig zugunsten der oder des potentiell Begünstigten auszuüben ist. (1.10c)
– Es wurde an zwei Stellen ein Verweis auf die regionale Beratung als Unterstützungsangebot aufgenommen (0. und 1.11b)
ABER:
– Klarstellung, dass eine Wohnsitzauflage nach §12 Abs.2 S.2 AufenthG bei Leistungsbezug nach dem SGB II oder SGB XII im Einzelfall von der ABH zu prüfen und zu verfügen ist. (Verweis AVwV 12.2.5.2.2) (1.12). Der BMI-Erlass bezieht sich lediglich darauf, dass eine Wohnsitzauflage nach §12a Abs.1 AufenthG nicht zu verfügen ist. Zur Wohnsitzauflage nach §12 Abs.2 S.2 AufenthG hatte sich der BMI-Erlass und auch der vorherige NRW-Erlass nicht verhalten. Nun (leider) die Klarstellung, dass bei Leistungsbezug eine Wohnsitzauflage zu verfügen ist (da es sich beim ChAR um eine humanitäre AE handelt).
Übergang §25a/§25b AufenthG:
– Klarstellung, dass der maßgeblicher Zeitpunkt für das Vorliegen der Voraussetzungen die Behördenentscheidung bzw. im Falle eines VG Verfahrens die letzte mündliche Verhandlung ist, nicht die Antragstellung (2.2 a).
– Bis zur Entscheidung über das Folgeaufenthaltsrecht soll im Falle der rechtzeitigen Antragstellung (Vorsicht: Fiktionswirkung nur bei Antragstellung auf AE nach §25a oder §25b AufenthG!) eine Fortgeltungsfiktion (§81 Abs.4 AufenthG) ausgestellt werden. Sofern noch nicht alle Erteilungsvoraussetzungen für den Übergang erfüllt sind, aber rechtzeitig mitgewirkt wurde und die Erfüllung der Voraussetzungen lediglich von einem zeitlichen Faktor abhängt, kann die Entscheidung der ABH rückpriorisiert werden. Die Personen sollen entsprechend in einer Fiktionsbescheinigung bleiben können, bis die Voraussetzungen erfüllt sind und der Rückfall in eine Duldung soll vermieden werden. Dies hat bereits der vorherige NRW-Erlass so benannt, der neue Erlass benennt allerdings neben der ausstehenden Passerteilung noch weitere Beispiele, bei denen großzügig von Fiktionsbescheinigungen Gebrauch gemacht werden soll, bspw. wenn ein erfolgreicher Schulabschluss zu erwarten ist, aber noch kein Zeugnis vorliegt, oder wenn voraussichtlich ein positiver Abschluss eines Sprachtests bzw. eines Tests Leben in Deutschland zu erwarten ist (2.2c).
– Hinweis, dass auch eine Fördermaßnahme beim Jobcenter ein Indiz für eine positive Prognoseentscheidung der vollständiger LUS beim Übergang in die AE nach §25b AufenthG sein kann. Bei Unsicherheit über die Prognose ist die Erteilung der AE nach §25b AufenthG auch zunächst für ein Jahr möglich (2.4a und b).